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Text aus dem Band: Huber, Lockemann, Scheibel, Visuelle Netze. Wissensräume in der Kunst, Ostfildern/Ruit 2004, Hatje Cantz Verlag


Netzkunst als Konzeptkunst

In den 1990er Jahren wurde versucht, die verschiedenen Erscheinungsformen von Kunst im Zusammenhang mit dem Internet zu definieren. Aus diesen Versuchen heraus wurde der Begriff der Netzkunst oder Net.Art geboren, der dieses Genre der Kunst als genuin für das Netz hergestellt, im Netz präsentiert und die Bedingungen des Mediums reflektierend beschrieb. Diese Definition schien notwendig, um beispielsweise Repräsentationen von Kunst im Netz, wie sie in Internetgalerien und digitalen Portfolios von offline arbeitenden KünstlerInnen betrieben wurde, zu unterscheiden. Seit dem Ende der 1990er Jahre ist an zahlreichen Stellen immer wieder vom Ende der Netzkunst gesprochen worden. Die Rede vom Ende zeugt aber vielleicht weniger vom Ende der Netzkunst als solcher als vielmehr von der Krise dieses Begriffs, der für die Produktion von Kunst in Verbindung mit dem Netz mittlerweile zu kurz greift. Es ist offensichtlich, dass sich in der künstlerischen Nutzung des Internets einiges seit den Anfängen des World Wide Web verändert hat. Da aber nach wie vor KünstlerInnen mit dem Internet arbeiten, soll hier eine Betrachtungsweise vorgestellt werden, die eine Möglichkeit bietet, die Zusammenhänge von Kunst und Netz einmal von einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten. In diesem Zusammenhang ist die Exaktheit des Begriffs Netzkunst und seine Anwendbarkeit auf aktuelle Strömungen zu überprüfen. Es soll der Versuch gemacht werden, das Internet als Möglichkeit der Erweiterung einer künstlerischen Praxis jenseits des Begriffs der Netzkunst zu begreifen.

Die ‚Klassiker‘ der Net.Art der neunziger Jahre – diejenigen Werke, die flächendeckend gezeigt und besprochen wurden – waren dadurch gekennzeichnet, dass sie sich selbstreflexiv mit den Bedingungen des Mediums, das ihre Existenz ermöglichte und legitimierte, auseinander setzten. Sie versuchten unter anderem, Kommunikationssysteme zu etablieren , die technische Labilität des Mediums abzubilden , nicht-lineare Erzählstrukturen auszuloten , die grenzüberschreitenden Möglichkeiten des Mediums zu nutzen oder durch Algorithmen und Programmierung neue visuelle Oberflächen zu erzeugen . Diese Liste ließe sich fortsetzen.

Ging es vielen Netz-KünstlerInnen der ersten Stunde zunächst darum, das neue Medium und dessen Möglichkeiten auszuloten ohne auf die Teilnahme am Kunstmarkt zu blicken, ließ die zuteil gewordene Aufmerksamkeit des Kunstsystems Hoffnungen auf eine dortige Anerkennung aufkeimen. Schließlich war zu beobachten, dass die Aufmerksamkeit des Kunstsystems wiederum bestimmte Positionen nachhaltig förderte, was einer kleinen Gruppe von AktivistInnen der ersten Stunde zu Gute kam. Es zeigt sich jedoch, dass der Versuch der Institutionalisierung von Netzkunst kaum überwindbare Hindernisse erzeugt, da sich Fragen der Präsentation, Konservierung und des Originals nicht adäquat lösen lassen. Diese Fragen waren zu Beginn ohne Bedeutung gewesen, da die Netzkunst anfänglich nicht dezidiert auf das Kunstsystem hin produziert wurde, sondern Alternativen parallel zum Kunstsystem auslotete. Zunächst ging es eher um die Entwicklung neuer Formen der Kommunikation. Zudem wurde auch das Prozessuale der Produktion betont, da es im Netz nicht um die Schaffung unveränderlicher Werke ging. Häufig wurde in Kollektiven gemeinsam mit RezipientInnen oder anderen KünstlerInnen etwas entwickelt, das sich immer wieder veränderte. Mit Aufkommen der Verbindungen zwischen Netzkunst und Kunstsystem wurden jedoch Fragen der Autorschaft, des Originals, sowie der Präsentation und Sammlung zunehmend wichtig, was sich langfristig verändernd auf die Netzkunst auswirkte.

Mediale Veränderungen
Die wichtigsten Veränderungen betreffen jedoch zunächst das Medium selbst. War das Netz zu Beginn der neunziger Jahre nur wenig kommerzialisiert, stieg die Zahl der Webseiten und damit auch die Kommerzialisierung sprunghaft an. Dadurch wurde das zufällige Aufspüren von Kunstwerken im Web extrem erschwert, was dazu führte, dass Netzkunstwerke auf anderen Ebenen Aufmerksamkeit erzeugen mussten, um ein interessiertes Publikum zu erreichen. So wurden die verschiedenen Bereiche des Kunstsystems – wie zum Beispiel Ausstellungen und Publikationen – zur Erzeugung von Öffentlichkeit genutzt. Außerdem wurde die Zusammenfassung von Inhalten in so genannten Portalen immer wichtiger, was den Auswahlmechanismen im Kunstsystem entspricht. Diejenigen KünstlerInnen, deren Arbeiten auf den einschlägigen Kunstwebsites vertreten sind, erhalten Aufmerksamkeit. Andere KünstlerInnen, die sich abseits dieses Systems bewegen, werden marginalisiert, da ihnen das Publikum fehlt. Die an Netzkunst interessierten KunstliebhaberInnen konsultieren vermutlich auf Grund der Unübersichtlichkeit des Mediums eher die Portale, als sich selbst auf der Suche nach Kunstprojekten mühsam durch das Netz zu navigieren. Um als KünstlerIn das System auf sich aufmerksam zu machen und für die eigenen Zwecke einzusetzen, ist eine Annäherung an dessen Bedingungen unumgänglich.

„Immer stellt sich für den Künstler, der mittels Medien eine Breitenwirkung erreichen will, die Frage, wie weit er sich dem System nähert, das über die technischen und finanziellen Mittel sowie die politische oder ökonomische Macht zur Produktion verfügt.“ Im Falle des Internets, das vergleichsweise kostengünstig und technisch einfach handhabbar ist, geht es nicht primär um die Bereitstellung von Produktionsmöglichkeiten als vielmehr um die Aufmerksamkeit eines potenziellen Publikums. In der zunehmend kommerzialisierten Umgebung des Netzes können schon Mitte der neunziger Jahre Kunstprojekte kaum noch Öffentlichkeit erzeugen, es sei denn, sie erfahren in anderer Form innerhalb des Kunstsystems Aufmerksamkeit.

Ist also das Kunstsystem der Kontext, in dem die Aktivitäten Beachtung finden sollen, muss von Seiten der KünstlerInnen darüber nachgedacht werden, inwieweit sich die Produktionsbedingungen des Netzes und die Anforderungen des Marktes in Einklang bringen lassen. Um den Bedingungen des Systems zu genügen, muss die Art der Beschäftigung mit dem Medium möglicherweise modifiziert werden. Dazu gehören zum Beispiel die Einbeziehung von Möglichkeiten einer musealen Präsentation abseits von Computerbildschirmen, sowie das Reflektieren von konservatorischen Aspekten. Es geht letztendlich um die Erzeugung von Produkten, die den Kriterien des Marktes entsprechen.

„Die Verortung der Intermedia- und Medienkunst im Kontext der bildenden Kunst spricht für deren Offenheit, doch sie rächt sich durch die Zwänge des Kunstmarkts, die jeder Distribution über Massenmedien entgegenstehen. Es ließe sich sogar behaupten, dass die Verwendung von elektronischen Medien innerhalb des Kunstsystems die Vermittlung eines Kunstwerks eher behindert als fördert. Deshalb entsteht eine auf die Institutionen des Kunstkontexts reagierende Form der Medienkunst, die sich als Videotape, Video- oder Audioinstallation manifestiert. Diese Entwicklung prägt das heute gängige Bild von Medienkunst.“ Netzkunst ist von vornherein darauf angelegt, über das Medium Internet verbreitet zu werden und sperrt sich in seiner ursprünglichen Form gegen eine Verbreitung über andere Datenträger. Das Netz nimmt als Ort und Bedingung der Entstehung beziehungsweise Rezeption eine elementare Rolle ein. Von daher ist die genuine Form von Netzkunst der 1990er Jahre schwerlich mit den Bedingungen des Kunstsystems in Einklang zu bringen. Dies ist sicherlich ein Grund dafür, dass Netzkunst im Bereich des Kunstsystems nach wie vor als Randerscheinung wahrgenommen wird, obwohl in den neunziger Jahren zeitweise ein Boom der Netzkunstrezeption zu verzeichnen war. Trotzdem ist es der Netzkunst bislang nicht gelungen, sich in den Kanon der zeitgenössischen Kunst einzureihen.

Bislang war von den sich ändernden Rezeptionsbedingungen des Mediums Internet und dessen Rückwirkung auf die Entwicklung der Netzkunst die Rede. Es gibt aber noch andere medienbedingte Einflüsse, die Beachtung verdienen. Einen ganz wesentlichen Aspekt der Veränderung stellt die Alltäglichkeit dar, die die Internet-Nutzung bekommen hat. Die anfängliche Euphorie über das Neue hat sich gelegt. Der Drang zum Experimentellen, zum Ausloten des Mediums und die utopischen Fantasien über die innovativen Möglichkeiten sind pragmatischeren Vorstellungen gewichen.

Schließlich haben sich auch die technischen Bedingungen des Mediums verändert. Reizte es in den neunziger Jahren noch, durch aufwändige Programmierungsversuche das Medium ästhetisch an seine Grenzen zu treiben, ist mittlerweile über die Verfügbarkeit von Produzentensoftware so vieles möglich, dass das Experimentieren im ästhetischen Bereich uninteressant geworden ist. Zudem ist das Internet zu einem alltäglichen Werkzeug geworden, das viele ohne große Probleme aktiv und passiv zu nutzen wissen. Dadurch ist das Expertenwissen, das die NetzkünstlerInnen als eine „Gemeinschaft von Eingeweihten“ auszeichnete und so zu einer Gruppe von Avantgardisten machte, weit gehend irrelevant geworden. Mittlerweile steht dieses Medium nicht nur speziell den NetzkünstlerInnen, sondern allen KünstlerInnen offen.

Inhaltliche Veränderungen
Bislang ist von den Veränderungen des Mediums Internet seit der ersten Nutzung durch KünstlerInnen gesprochen worden. An dieser Stelle sollen das Inhaltliche und der Begriff der Netzkunst stärker reflektiert werden. Netzkunst wurde als prozessorientiert, kommunikativ und medienkritisch beschrieben. Die meisten Netzkunst-Arbeiten zeichneten insbesondere zwei Aspekte aus: ein konzeptueller Ansatz und eine Reflexion der Bedingungen des Mediums. Zur gleichen Zeit war die Kunstproduktion außerhalb des Netzes ebenfalls prozessorientiert, kommunikativ und institutionskritisch . Reflektierte die Netzkunst die Bedingungen des Mediums Internet, taten andere Kunstströmungen dies in Bezug auf die Kunstinstitutionen. Hier lassen sich deutliche Parallelen erkennen.
Schaut man sich die Kunstproduktion der 1990er Jahre an, lässt sich feststellen, dass besonders in der ersten Hälfte der neunziger Jahre Begriffe wie ‚Konzept‘- beziehungsweise ‚Kontextkunst‘ und ‚Institutionskritik‘ benutzt werden, um Trends in der damals zeitgenössischen Kunst zu beschreiben. Im Katalog zur Ausstellung „Kontext Kunst“ von 1993 schreibt Peter Weibel kontextuellen Kunstwerken folgende Fähigkeiten zu: „Sie analysieren den Diskurs Kunst, die Bedingungen dieses Diskurses, die sozialen, formalen, räumlichen, kognitiven, ideologischen Konstitutionen dieses Diskurses. Als solche produzieren sie auch einen Diskurs mit jenen künstlerischen Mitteln, die sie aus dem ästhetischen Feld oder aus anderen Diskursen beziehen. Kunst als Diskursanalyse der Kunst aber auch anderer Diskurse […] sind das Arbeitsfeld der Kontextkunst.“
Wenn wir nun versuchen, die Werke der Netzkunst der neunziger Jahre als Kunstwerke zu betrachten, die den Diskurs des Netzes in einem künstlerischen Umfeld analysieren, können wir sie als kontextuelle Kunstwerke im Weibel’schen Sinne betrachten. Da der Begriff Kontextkunst jedoch zu sehr mit der gleichnamigen Ausstellung verbunden ist, möchte ich – allgemeiner – die Verwendung des Begriffs Konzeptkunst vorschlagen. Dieser ist genreübergreifend und beschreibt ein heterogenes „Feld der Verhandlung der gewandelten kulturellen Bedeutung von Bild, Sprache und Repräsentation“ . Er umschließt gleichermaßen die Konzeptkunst der 1960er Jahre, in der einige Vorläufer der Netzkunst, wie zum Beispiel die Mail-Art, ihren Ursprung hatten. Diese Begrifflichkeit hilft dabei, die Netzkunst als Teil des Kunstsystems der 1990er Jahre – unabhängig von der Benutzung des Mediums Internet – zu begreifen. So können wir gleichzeitig die diskursiven Werke von denen, die nicht diskursiv sind, unterscheiden. Dies ist wichtig, da die unterschiedlichen Ansätze innerhalb der Netzkunst teilweise sehr weit voneinander entfernt sind und durch das Medium Internet auch heterogenste Werke parallel existieren können. Netzkunst nicht mehr in einem reinen Medienkontext wahrnehmen zu müssen, kann ebenfalls helfen, die aktuellen Tendenzen von Kunst und Netz zu begreifen, die über die Netzkunst der neunziger Jahre hinausgehen und sich in ihrer Erscheinungsform verändert haben.
Verstehen wir die Netzkunst der 1990er Jahre als einen Bereich der Konzeptkunst, ist es recht nahe liegend, dass sich die Erscheinungsformen der Net.Art zu Beginn des neuen Jahrhunderts verändert haben. Sie sind ebenso wie die der zeitgenössischen Kunst abseits der Medien einem Wandel unterworfen. Institutionskritische Ansätze stehen weniger stark im Vordergrund. In der zeitgenössischen Kunst der letzten Jahre haben sich die thematischen Schwerpunkte verlagert. Die Kritik am Kunstsystem und seinen Bedingungen hat abgenommen. Die Institution Kunst beziehungsweise die Institutionen der Kunst oder des Kunstmarktes werden weniger häufig oder weniger vordergründig thematisiert. Die Documenta 11 legte unter anderem einen Schwerpunkt auf die künstlerische Beschäftigung mit geopolitischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Fragestellungen, die derzeit unter Einsatz ganz unterschiedlicher Medien stattfindet. Die Gesellschaft und ihre Bedingungen, Globalisierung, Ökonomie und deren Repräsentation durch Medien werden in die Kunstproduktion auf verschiedenen Ebenen einbezogen. Nach wie vor existieren diskursive Ansätze, nur die Inhalte haben sich verlagert. Dieser Prozess ist auch in der Entwicklung von Arbeiten mit dem Netz abzulesen. Die Beschäftigung mit den Bedingungen des Mediums Internet hat abgenommen, was mit zunehmender Alltäglichkeit seines Gebrauchs in Verbindung gebracht werden kann.

Das Ende der Netzkunst wie sie in den 1990er Jahren definiert wurde
Die Thematisierung des Mediums und seiner Bedingungen war ein wichtiger Teil der Definition der Netzkunst der neunziger Jahre. Fällt dieser Aspekt in der zeitgenössischen Produktion nicht mehr ins Gewicht, so lässt sich behaupten, dass die Netzkunst nicht mehr existiert. Bereits kurz nachdem 1997 auf der documenta X Netzkunst erstmals im Rahmen einer großen Ausstellung zeitgenössischer Kunst einem breiten Publikum vorgestellt wurde, entstand der Eindruck, die Netzkunst sei ein Phänomen der Vergangenheit. Dieser Eindruck hat sich nach dem großen Crash des Neuen Marktes zu Beginn des 21. Jahrhunderts verfestigt. KünstlerInnen, die von Anfang an im Bereich der Netzkunst aktiv waren, verabschiedeten sich aus diesem, da er ihnen keine Zukunft zu bieten schien. Heath Bunting, einer der Pioniere der Netzkunst, bezeichnete sich beispielsweise frühzeitig als „Netzkünstler im Ruhestand“ . Die Innovationsmöglichkeiten des Mediums scheinen erschöpft, die Netzkunst an sich scheint in eine Sackgasse geraten zu sein. Als „Todesursache“ werden verschiedene Gründe angeführt. So ist unter anderem vom mangelnden Interesse eines breiteren Publikums die Rede, von der wenig überzeugenden Ästhetik einer Präsentation auf dem Computerbildschirm oder dem ambivalenten Verhältnis zum Kunstsystem. Die Schwierigkeit, den Grund des Niedergangs der Netzkunst exakt zu fassen, liegt nach Ansicht von Gerrit Gohlke in der Tatsache, „dass nicht eine Kunstform, sondern eine Utopie zu Grabe getragen werden muss.“ Er beschreibt Netzkunst als ein „Nicht-Genre“ und viele ihrer visuellen Ausdrucksformen als „[…] vollkommen uninteressant. Netzkunst war vielmehr eine utopische Zusammenhangsstiftung, die Kunst und technische Außenwelt verband.“ Das Medium bildet eine Klammer für sehr heterogene Ansätze der Kunstproduktion. Der Begriff Netzkunst versucht, dieses Spektrum weiter einzugrenzen und lediglich Projekte zu umfassen, die sich inhaltlich mit den Bedingungen des Mediums beschäftigen. In jeder Strömung der Kunst gibt es interessante und weniger interessante Projekte, dies trifft auch auf die Netzkunst zu, weshalb ein solches Argument kaum dazu geeignet ist, die Netzkunst als solche kritisch zu beschreiben. Das Argument, es handle sich bei den Anfängen der Netzkunst um eine Utopie ist sehr plausibel, eine solche Zuschreibung trifft jedoch vermutlich auf zahlreiche Avantgarde-Projekte zu. Natalie Bookchin teilt Gohlkes pessimistische Sicht im Hinblick auf die Rede vom Ende nicht und betont vielmehr, „[…] dass das Netz dazu da ist, sich in ihm aufzuhalten, und dass Künstler es benutzen und weiter benutzen werden. […] das Netz [ist] ein unverzichtbares Werkzeug und Material für unzählige Künstler […]; relevant ist vielmehr, in welcher Weise Netzkunst die künstlerische Produktion verändert hat.“ Bookchin spricht hier zwei wesentliche Aspekte an: Es wird nach wie vor künstlerisch im und mit dem Netz gearbeitet, des Weiteren gibt es einen Einfluss der Kunstproduktion im Netz auf andere Bereiche der zeitgenössischen Kunst. Dem liegt vermutlich eine Wechselwirkung zwischen Kunstsystem und Netzkunst zu Grunde. Die verschiedenen Einflüsse legen einen Wandel nahe. Der Rückzug der Pioniere – sozusagen der Avantgarde –, die der Net.Art überhaupt zur Beachtung im Kunstsystem verholfen hat, bedeutet nicht im eigentlichen Sinn das Ende der Netzkunst.

Die Net.Art hat sich geöffnet, ist weniger streng was die Inhalte anbelangt und hat unterschiedliche Formen angenommen. Dies kann man gutheißen oder verwerfen; aber statt das Ende der Netzkunst zu beschwören, sollte vielleicht eher über eine Neudefinition des Begriffs nachgedacht werden, der für die verschiedenen Erscheinungsformen von Netzkunst adäquat ist. Die Schwierigkeit, die verschiedenen Tendenzen begrifflich zu definieren, macht eine gewisse Hilflosigkeit deutlich. Wenn man für die einzelnen Ansätze und Strömungen der künstlerischen Arbeiten im, mit dem und für das Internet jeweils eigene Begriffe einführt, wird dies die Rezeption und das Verständnis der einzelnen Arbeiten kaum erhöhen. Von daher sollen im folgenden ausgewählte Felder der Netzkunst umrissen, im Gesamtkontext der zeitgenössischen Kunst jedoch für eine stärker inhaltlich geprägte Zuordnung plädiert werden. So wie einige zeitgenössische fotokünstlerische Ansätze es notwendig machen, die Parallelen zur Malerei stärker zu betonen als die zu anderen Bereichen der Fotografie , könnte eine solche Vorgehensweise in der Betrachtung unterschiedlicher Ansätze der Netzkunst ebenfalls zum Verständnis beitragen. Die medialen Zusammenhänge eines Kunstwerkes sind für das genuine Werkverständnis sehr wichtig, im Vergleich zu inhaltlichen und konzeptionellen Aspekten aber möglicherweise sekundär. Unabhängig von der Verwendung der unterschiedlichen analogen und digitalen Medien weist die zeitgenössische Kunstproduktion Strömungen auf, die die Mediengrenzen überwinden und möglicherweise auch infrage stellen.

Netzkunst nach der Netzkunst
Hier sollen drei verschiedene künstlerische Ansätze, das Internet als Medium in die Kunstproduktion mit einzubeziehen, unterschieden werden. Nach der ursprünglichen Definition von Net.Art gelten diese meist nicht als Netzkunstprojekte. Der erste Bereich bezeichnet Kunstwerke, die in Verbindung mit dem Internet entstehen, das Medium in die Produktion mit einbeziehen, als Produkt jedoch nicht das Internet zur Rezeption benötigen. Vielmehr entstehen Werke, die als Objekte oder Installationen im realen Raum existieren und trotzdem implizite Verbindungen zum Medium Internet aufweisen. Solche Strategien werden sowohl von Netzkunstpionieren, wie beispielsweise der Künstlergruppe Blank und Jeron aus Berlin angewendet , als auch von KünstlerInnen, die bislang unabhängig vom Netz im Kunstsystem operiert haben und das Internet als Erweiterung der künstlerischen Produktionsmöglichkeiten begreifen. Blank und Jeron haben bereits frühzeitig damit begonnen, installative Werke zu entwickeln, die den virtuellen Raum des Internets mit dem Realraum verbinden. Die Arbeit Scanner++ , eine mit dem Internet verbundene Rauminstallation, wurde bereits 1998 konzipiert und im internationalen Rahmen präsentiert. [Abb. 1 Scanner++ Blank/Jeron 1998] Thomas Ruff wäre als Beispiel für KünstlerInnen zu nennen, die sich bereits vor der Nutzung des Internets im Kunstkontext Renommee verschafft haben. Seine Arbeit „Nudes“, begonnen 1999, führt sein fotografisch-bildnerisches Schaffen fort, macht jedoch das Web als Quelle seines Materials deutlich. Ruff zieht pornografische Bilder aus dem Internet, vergrößert und verfremdet sie und lässt sie anschließend als großformatige Foto-Prints wieder ausgeben. Es entstehen Tafelbilder, die in ihrer Anmutung auf das Medium und die dort gängige Praxis der Verbreitung von (pornografischem) Bildmaterial verweisen. Diese Art der künstlerischen Beschäftigung mit dem Internet ist wohl am weitesten von der ursprünglichen Definition von Netzkunst entfernt. Die entstehenden Werke nähern sich stark den Bedingungen des Kunstsystems an, da materielle Objekte entstehen, die in Ausstellungen präsentiert werden und teilweise als Produkte verkäuflich sind. Die Verbindungen zum Internet sind zum Teil in den Werken nicht explizit sichtbar. An dieser Stelle empfiehlt sich eine Abkehr vom Begriff der Netzkunst, da eine solche Definition missverständlich wird. Andererseits sind die Bezüge zum Medium Internet vorhanden und wichtiger Bestandteil der Produktion. Das Netz stellt ein konstituierendes Element des Werkes dar. Die Schwierigkeit, mit den bislang gebräuchlichen Begriffen zu operieren, wird deutlich.

Der zweite Bereich ist vielleicht am besten mit dem Begriff ‚Flash-Art‘ bezeichnet. Mit dem kommerziellen Programm Flash werden Animationen und Effekte generiert, die über einen Webbrowser angesehen werden können und ästhetisch meist sehr anspruchsvoll sind. Unter diesen Begriff sollten jedoch nicht ausschließlich Flash-Anwendungen fallen. Er steht vielmehr für die Tendenz, das World Wide Web als Verbreitungsplattform für Filme, Grafiken und Animationen zu nutzen, die ebenso auf CDs oder DVDs verbreitet werden könnten. Das Web spielt hier lediglich in Bezug auf die weltweite Zugänglichkeit und Verbreitung eine Rolle, als dass es tatsächlich als Medium reflektiert und zum Verständnis des Werkes benötigt würde oder Beteiligungsmöglichkeiten für die NutzerInnen offen stünden. Die Betrachtung solcher Projekte erfordert in der Regel eine sehr schnelle Internetverbindung und die neuste Browsersoftware. [Abb. 2 ] Dadurch sind sie nur denen zugänglich, die Hard- und Software immer auf dem aktuellsten Stand halten, was sich meist nur diejenigen leisten, die täglich im beziehungsweise mit dem Internet arbeiten. Hierin weichen diese Projekte maßgeblich vom Ursprungsgedanken der Netzkunst ab. Die Pioniere der Netzkunst waren oftmals bemüht, die Websites auch denen zugänglich zu machen, die über langsame Modemverbindungen, kleine Monitore und veraltete Hard- und Software verfügen. Flash-Art-Projekte verwischen zudem die Grenzen zwischen Design und Kunst, da sie sich ästhetisch kaum von Design-Projekten unterscheiden. In dem Versuch, Netzkunst als eine Strömung zeitgenössischer Kunst zu etablieren, sind Flash-Art-Projekte teilweise sehr erfolgreich. Besonders in den USA bemühen sich einzelne Kunstinstitutionen um eine verstärkte Einbindung solcher Art von Netzkunst in Ausstellungen und Sammlungen. Die häufig von Museen kommissionierten Projekte geraten jedoch zunehmend zu ästhetisch glatten, technisch anspruchsvollen Anwendungen und unterscheiden sich so nachhaltig inhaltlich wie ästhetisch von den Werken der Netzkunst der 1990er Jahre. Solche Werke ordnen sich recht problemlos in die Bedingungen des Kunstsystems ein, da sie das Netz nicht als Ort der Präsentation benötigen und in Form von Datenträgern verkäuflich sind. Aus konservatorischen Gesichtspunkten werfen sie ähnliche Probleme auf wie andere Formen der Medienkunst. Es stellen sich im Gegensatz zu frühen Netzkunstprojekten eher Fragen nach der Konservierung von Soft- und Hardware und weniger nach der des Rezeptionsumfelds im Netz, das sich durch den rasanten Wandel des WWW bei frühen Netzkunstprojekten sehr anders zeigte als dies heute der Fall ist.

Der dritte größere Bereich umfasst aktivistische Netzprojekte. Dabei handelt es sich um Arbeiten, die häufig mit gesellschaftlichen und politischen Hintergründen operieren. Diese Projekte sind oftmals nicht eindeutig dem Feld der Kunst zuzuordnen, werden aber im Bereich eines politisierten zeitgenössischen Kunstschaffens als der Kunst zugehörig wahrgenommen. Sie operieren nach wie vor im Randbereich des Kunstsystems, da sie keine Produkte erzeugen, die eine Positionierung am Markt erlauben würde. Dem ursprünglichen Gedanken der Netzkunst sind diese Projekte vermutlich am nächsten, auch wenn sich die Inhalte dahingehend verschoben haben, dass sie weniger die Bedingungen des Mediums thematisieren, als vielmehr Politik, Ökonomie und Globalisierung betreffende Fragen beleuchten. Als Beispiel kann hier die Künstlergruppe ®TMark (ausgesprochen: Artmark) genannt werden. [Abb. 3 ®TMark] Die Künstlergruppe tritt als Unternehmen auf, um mit unternehmerischen Mitteln gegen die Macht von Corporate America vorzugehen. „RTMark ist ein voll registriertes Unternehmen mit dem Geschäftsziel, die Gelder anonymer Spender zu den Spaßguerilleros zu bringen, die hoffen, die Vorherrschaft der Unternehmen zu brechen. Auf der Website von RTMark kann man durch Dutzende Vorschläge für einen Medienterrorismus scrollen, eine Aktion aussuchen, die man unterstützen möchte, und dann Gelder mit einem Mausklick anbieten. Das Unternehmen garantiert, dass der Spender nicht zur Rechenschaft gezogen wird, indem man sich auf dieselben Rechte stützt, die auch die leitenden Angestellten vor einer Schadensklage schützen, wenn sie Mist gebaut haben.“ ®TMark arbeiten eng mit dem Publikum zusammen. Wer mehr oder weniger ernst gemeinte Ideen für politisch motivierte Projekte hat, der kann diese auf www.rtmark.com publizieren. Wer Interesse an der Realisierung des Projektes hat, kann entsprechend Kontakt aufnehmen oder Gelder spenden. So formieren sich flexible Aktionsgruppen. ®TMark sorgten jedoch auch im Kunstsystem selbst für Verwirrung, als sie auf der Ars Electronica in Linz 1998 und 1999 ins Kreuzfeuer der Kritik gerieten, weil sie die Verquickungen zwischen dem Kunstfestival und Großkonzernen radikal offen legten und auf dem Symposion vertretene affirmative Positionen scharf kritisierten (1999 wurden sie nur auf Grund eines Fehlers erneut eingeladen) . Gerrit Gohlke beschreibt das Projekt als eine „Ideenbörse, die politischen Widerstandsgesten zum Durchbruch verhilft, indem sie ihnen mit Mitteln der kritisierten politischen oder ökonomischen Kaste Öffentlichkeit verschafft, sei es durch organisatorisches Netzwerk-Know-how oder eine geschickte Pirateriestrategie, die Websites erst kopiert und dann mit gegenläufigen Inhalten füllt.“ In ihrer Unangepasstheit und Radikalität weisen sie Parallelen zu frühen Netzkunstprojekten der neunziger Jahre auf. Lediglich im satirischen Umgang mit politischen Inhalten unterscheiden sich ®TMark von anderen politisch motivierten aktivistischen Projekten, die nicht im Rahmen des Kunstsystems rezipiert werden. ®TMark können sich jedoch auch Umgebungen außerhalb des Kunstsektors anpassen. Die Grenzen zwischen Kunst und Aktivismus sind fließend, diese Felder überlagern sich partiell, so dass die Projekte unterschiedlichen Rezeptionsbedingungen angeglichen werden können.

Die Beschreibungen dieser Felder der künstlerischen Betätigung im und mit dem Internet stellen lediglich einen Versuch dar, das heterogene Feld der Strategien zu umreißen. Es gibt sicherlich zahlreiche Projekte, die in anderen beziehungsweise Zwischen- und Grenzbereichen zu verorten sind. Die Beispiele weisen jedoch darauf hin, dass das Feld in Bewegung ist und sich nicht starren Parametern anpasst.

Resümee
Es zeigt sich, dass in Zusammenhang mit dem Internet nach wie vor künstlerische Arbeiten entstehen. Diese sind mit dem Begriff Netzkunst oder Net.Art, wie er in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts verwendet wurde, kaum adäquat bezeichnet. Daraus resultiert die Frage, ob wir die entstehenden Werke nun noch als „Netzkunst“ bezeichnen dürfen, oder ob wir sie als „Netzkunst nach der Netzkunst“ oder „Kunst mit dem Netz“ oder aber ganz allgemein als Medienkunst betrachten. Wobei auch die Bezeichnung Medienkunst in die Irre führt, da in der künstlerischen Nutzung des Netzes Mediengrenzen teilweise aufgesprengt werden und die gebräuchlichen Kategorien begrifflich oft nicht zutreffen. Ich möchte deshalb hier für die Öffnung des Begriffes Netzkunst plädieren und das Netz als eine Erweiterungsmöglichkeit der künstlerischen Praxis sehen, dessen Gebrauch nicht ausschließlich den NetzkünstlerInnen vorbehalten ist. Zahlreiche KünstlerInnen nutzen das Internet im Rahmen ihrer Kunstproduktion, ohne sich als Netz- oder MedienkünstlerInnen zu bezeichnen. Es entstehen künstlerische Arbeiten, in denen das Netz lediglich als Idee für eine inhaltliche Umsetzung aufscheint, in denen Material aus dem Netz für eine Weiterverarbeitung genutzt wird, in denen das Netz unmittelbar in den Produktionsprozess einbezogen wird oder die im Netz präsentiert werden. Den Nutzungsmöglichkeiten scheinen keine Grenzen gesetzt zu sein, wobei die technische Kompetenz und das inhaltliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit dem Medium sicherlich einen großen Einfluss auf die Art der Nutzung ausüben.

Die Heterogenität der Werke, die unter Einfluss des Internets entstehen, macht deutlich, dass eine Definition, die eine Zuordnung allein über das Medium vornimmt, nicht zwingend zum Verständnis beiträgt. Vielmehr sollte versucht werden, die inhaltlichen Aspekte der Projekte zu betonen und erst dann nach der Verwendung der jeweiligen Medien zu fragen. Dies könnte dazu führen, die verschiedenen Kunstprojekte aus einem neuen Blickwinkel zu sehen und so die leidige Frage nach dem Ende der Netzkunst zu überwinden. Die Avantgarde-Periode der Netzkunst ist eindeutig mit den Konzepten, Ideen und Experimenten der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts verknüpft. Diese Periode ist abgeschlossen. Die Nutzung des Internets in künstlerischen Zusammenhängen ist in eine neue Phase eingetreten, die durch das Geschehen in der zeitgenössischen Kunst beeinflusst wird und sich wechselseitig darauf auswirkt. Man wird dieses Geschehen weiterhin aufmerksam verfolgen, um die guten von den mittelmäßigen Projekten zu unterscheiden. In einiger Zeit wird es vielleicht möglich sein, mit adäquaten Begriffen zu beschreiben, wo die aktuellen Tendenzen zu verorten sind.

Bibliografie

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