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Helen Levitt: Fotografien 1937 – 1991
Helen Levitt interessiert sich für Menschen. Ihre Aufmerksamkeit erregt, wer sich im öffentlichen Raum der Straße bewegt. Helen Levitts Menschen gehen hier ihrer Arbeit nach, eilen von A nach B oder verbringen hier einfach ihre Freizeit. Hier, das sind die Straßen ihrer Heimatstadt New York, die die 1913 geborene Helen Levitt seit den 1930er Jahren beobachtet. Mit schwarzweißen und farbigen Fotografien zeichnet sie das städtische Leben im Stil der „street-photography“ auf. Doch durch die lange Zeitspanne, über die diese Bilder entstanden sind, sind sie zugleich zu Zeitporträts geworden, denen die Atmosphäre New Yorks in ihren Wandlungen eingeschrieben ist.
Einen Ausschnitt aus diesen Fotografien bietet nun ein Buch, das als Katalog zur umfangreichen Hannoveraner Retrospektive anlässlich der Verleihung des Spectrum Preises für Fotografie an Helen Levitt erschienen ist. Es versammelt Fotografien aus den verschiedenen Schaffensphasen der Autorin. Die Bilder sind nicht chronologisch angeordnet, schwarzweiße und farbige Fotografien sind gemischt, so dass ein kaleidoskopischer Einblick in Levitts Arbeitsweise gewährt wird. Hinzu kommt, dass die Bilder nicht mit Datums- und Ortsangaben ausgezeichnet sind. Im Resultat beginnen die Bilder dadurch eigenständig für sich zu stehen. Hinweise auf den Zeitpunkt ihrer Entstehung geben allein die Kleidung der ProtagonistInnen, die Werbeplakate oder auch die Automobilmodelle. Diese Hinweise genügen: Nach und nach, das fällt auf, verschwinden die spielenden Kinderscharen aus Levitts Fotografien, und auch die Nachbarschaft als sozialer Raum des Kontakts und der Begegnung zwischen Menschen löst sich offenbar auf. Es scheint fast, als verwandle sich die Straße über die Jahre zum bloßen Transitraum und Aufenthaltsort nur noch für Menschen, die anders sind, sich am Rande der Gesellschaft bewegen.
Im Durchmessen des langen Zeitraums werden Levitts Fotografien zu Dokumenten einer sich wandelnden Stadt und ihrer Gesellschaft. Doch etwas wie Wehmut beim Anblick von Vergangenem lässt das Buch, lässt vor allem die durchbrochene Chronologie, bei allem Wandel und offenbaren Verlust, nicht zu. Was bleibt, ist die scharfe Beobachtung des urbanen Raums und seiner ProtagonistInnen.
In den frühen Fotografien tummeln sich Menschen – vor allem Kinder – auf der Straße. Sie toben und tanzen, sind in Bewegung, festgehalten in einem kurzen Moment. Durch ihre Blicke und Gesten entstehen innerhalb der Bilder Beziehungen. Sie verdichten sich durch den Rahmen des Bildes, der alles, was außerhalb liegt, vergessen lässt. Selbst wenn einige Jungs mit ihren Spielzeugpistolen abwesenden Spielkameraden auflauern, entsteht durch den Blick des Mittleren eine Spannung, die keiner weiteren Erklärungen bedarf. So verdichtet sich auch im Bild der beiden Herren, die auf ihren Holzstühlen bei der Hochbahn am Straßenrand sitzen, der eine gestenreich erzählend, der andere sich wegdrehend, die Atmosphäre des täglichen Lebens, in dem die sozialen Beziehungen innerhalb des öffentlichen Raums ihren festen Platz behaupten.
Diese klar strukturierten Bilder wechseln sich ab mit Ansichten komplexer Situationen: Während eine Frau hinter ihrer Zeitung verborgen ist, die in großen Lettern vom alliierten Vormarsch in Italien berichtet, scheinen die drei anderen Damen in ein Gespräch vertieft. Die beiden stehenden Frauen in Mänteln schauen zu der sitzenden Frau herab, die gerade ihren Mund mimisch verzieht, die Augen halb geschlossen. Links, in einem Kinderwagen, liegt ein schlafendes Kind, im Glas des dahinter liegenden Fensters spiegeln sich einige Brownstones und Passanten. Dieses Bild erklärt nichts, es zeigt eine Situation in der es sich die vor dem Haus auf Holzkisten sitzenden Damen gemütlich gemacht haben und dort anderen begegnen. Doch der Fokus bleibt nicht auf der engeren Gruppe, er bezieht den Kinderwagen und die Fensterspiegelung mit ein, er öffnet das Blickfeld und beleuchtet auch den sozialen Raum, in dem sich die Personen begegnen.
Während viele der frühen Schwarzweiß-Fotografien wie ein Guckkasten den Blick auf eine Bühne freigeben, rücken die Farbfotografien seit den 1970er Jahren eher einzelne Personen oder kleinere Personengruppen ins Zentrum. Zugleich verändert sich die Art und Weise der Vermittlung des komplexen sozialen Beziehungsgeflechts in den Fotografien Levitts. Eine Fotografie zeigt beispielsweise eine Frau, die mit Lockenwicklern im Haar vor einem Friseurladen mit einer Lupe die Fernsehzeitung studiert. Über sie hinweg blicken uns die Frisurenmodelle aus dem Schaufenster mit ihren frisch geföhnten Haaren direkt in die Augen. Aus der einzelnen Figur wird im Bild ein Dreierporträt, das durch eine weitere Hinterkopfansicht ergänzt wird. Ein alter Mann bläst im Rinnstein zwischen Abfall stehend bunte Luftballons mit Katzengesichtern auf. Dabei schaut er ganz versunken nach links aus dem Bild, seine Figur hebt sich vor der leicht unscharfen Fassade eines Kiosks deutlich ab. Obwohl die einzelnen Figuren isoliert in der Bildmitte erscheinen, öffnet die Kamera auch den Blick zur Straße.
Auf diese Weise halten die Bilder zunächst scheinbar isolierter Individuen den Kontakt zur sozialen Komplexität, zeigen sie doch – wenn auch manchmal unscharf – das Geschehen im Hintergrund. Die Fotografin hält Abstand, auch wenn sie eine Mutter, die sich mit ihren zwei Kindern in eine Telefonzelle quetscht, ins Zentrum eines Bildes rückt. Denn der Abstand gewährt den Blick auf das Stadtgeschehen, die Passanten im Hintergrund, das rissige Pflaster. Die Bildaufteilung setzt so die beobachtete Situation in Beziehung zum Stadtraum: Der fehlende Platz in der Telefonzelle wird durch den geöffneten, umgebenden Raum wettgemacht. Die Eigentümlichkeit der Situation wird normalisiert.
Helen Levitt stellt die Menschen nicht bloß, selbst wenn sie sich in skurrilen, komischen oder ungewöhnlichen Situationen befinden. Ihre beobachtenden Fotografien geben Raum, zeigen Gesten und Situationen, in denen die Menschen ihre Würde behalten. Walker Evans hat Levitts Ansatz einmal „Antijournalismus“ genannt. Damit ist wohl gemeint, dass ihre Fotografien nicht über Außergewöhnliches oder Besonderes informieren. Vielmehr zeigen Helen Levitts Fotografien, dass die Welt um uns herum mit all ihren kleinen Alltäglichkeiten durchaus beachtenswert ist. In den Bildern entwickeln die Gesten und Situationen ein Eigenleben. Der Auslöser der Kamera Helen Levitts ist vielleicht nicht der „Knopf zur Geheimpassage“, der von Kinderhand mit Kreide auf eine Hauswand gemalt ist, doch ermöglichen ihre Fotografien den Betrachtern die Wahrnehmung einer Welt des Situativen, die eigentlich hätte vergänglich und vielleicht sogar unbeobachtbar sein sollen.
© Bettina Lockemann 05|2008
Inka Schube (Hg.), Helen Levitt. Fotografien 1937 – 1991, Kat. (Sprengel Museum Hannover), New York 2008
168 Seiten, 132 Abbildungen
Format: 32,5 x 31,5 cm