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Text aus dem Band: Huber, Lockemann, Scheibel, Visuelle Netze. Wissensräume in der Kunst, Ostfildern/Ruit 2004, Hatje Cantz Verlag
Vom Grenzraum zur Grenzüberschreitung
Grenzen und Globalisierung im künstlerischen Diskurs
Einleitung
Die Auseinandersetzung mit den neuen Kommunikationsmedien, die in den 1990er Jahren ihren Siegeszug rund um den Globus angetreten haben, wirft Fragen nach den Chancen und Möglichkeiten ihrer Nutzung auf. Sie sind aus unserem Alltag kaum wegzudenken und haben das Kommunikationsverhalten über die letzten zehn Jahre hinweg nachhaltig geprägt und verändert. Besonders die Aspekte einer globalen Nutzung und des Aufbrechens von Raum- und Zeitbarrieren machen Online-Medien höchst attraktiv für zahlreiche Anwendungsbereiche. Das Arbeiten in Netzwerken und virtuellen Räumen verändert unser Verständnis geografischer Gegebenheiten. Die rasante Ausbreitung des Internets für den populären Gebrauch hat Grenzen gesprengt und neue Verbindungen geschaffen oder die bestehenden verändert. Es ist sicher kein Zufall, dass dies in einer Zeit geschah, als die prägende Grenze des 20. Jahrhunderts, der Eiserne Vorhang, gefallen war und somit eine politisch-geografisch-ökonomische Veränderung der Verhältnisse einsetzte. So ist das Aufkommen von Online-Medien in den neunziger Jahren eng mit Aspekten von Grenzüberwindung und Globalisierung verknüpft. Gerade die Möglichkeiten der Überwindung und Neuord-nung von Grenzen verleiht der Idee der Grenze neues Gewicht. Den Ausgangspunkt der Grenzüberwindung, die durch Medien wie das Internet allen ihren Fassetten repräsentiert wird, bildet das Nachdenken über die Grenze selbst. Eine große Anzahl von künstlerischen Arbeiten und Ausstellungsprojekten der letzten Jahre beschäftigen sich mit den verschiedenen Aspekten von Grenzen. Seien es geografisch markierte Grenzen, ideologische Grenzen oder die Grenzen des Körpers, das Thema Grenze hat eine hohe Relevanz in der künstlerischen Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen. Das Spannungsfeld, das hier genauer betrachtet werden soll, entsteht zwischen den Polen Begrenzung und Globalisierung. Es ist eng verknüpft mit medialen Aspekten, politisch-geografischen Gegebenheiten und Fragen des Raumes.
Eine Grenze markiert zunächst eine Unterscheidung. Sie erzeugt ein binäres System zwischen innen und außen, das sich im Räumlich-Geografischen manifestieren kann, aber auch im übertragenen Sinn auf zahlreiche Systeme und Situationen anwendbar ist. Grenzen definieren den inneren Bereich als eigen und zugehörig, alles außerhalb Liegende gleichzeitig als anders und fremd. Sie wirken sich auf eine Identitätsbildung aus, die selbst wiederum zur Definition von Grenzen beiträgt. Grenzen können sich wechselseitig bedingen. „Wie soziale Normen in einem metaphorischen Sinn Grenzen ziehen, so konstituieren territoriale Grenzen in einem ganz unmetaphorischen Sinn soziale Normen.“ Grenzen besitzen prinzipiell etwas Trennendes und Beschränkendes. Die Überwindung der Grenze stellt eine Herausforderung dar, die unter Umständen das bestehende System infrage stellt, aber auch Fortschritt bedeutet. Ohne Grenzüberschreitungen sind Entdeckungen undenkbar. Die Idee der Grenze impliziert immer auch ihr Überschreiten. Ist das Interesse einer Grenzverletzung nicht vorhanden, wird die – künstlich erzeugte – Grenze unnötig und muss nicht definiert werden. Erst die Idee der Überwindung macht die Grenzziehung notwendig. So wird die Grenze zu einem regulierenden System, das zunächst trennt, um dann an fest definierten Punkten zu bestimmten Konditionen neue Verbindungen zuzulassen. „Praktisch funktionieren Grenzen als Selektionsmaschinen, welche die Unterscheidung ,durchlassen – nicht durchlassen‘ prozessieren.“
Politisch-geografische Grenzen
Im Geografischen markiert die Grenze eine sichtbare oder unsichtbare Linie, die den Raum ordnet. Dabei ist es wichtig, zwischen natürlichen und künstlichen Grenzen zu unterscheiden. Natürliche Grenzen können beispielsweise Flüsse, Gebirge, Wälder sein. Sie unterscheiden sich insofern von künstlichen, als sie selten eine scharfe Begrenzung darstellen. Sie ermöglichen eine Trennung von hier und dort, schaffen aber häufig noch einen Zwischenraum, der ein unmarkiertes Territorium beinhaltet. Ein Fluss wirft beispielsweise die Frage auf, ob er denn nun auf diese oder auf die andere Seite gehört, die Grenze also mit dem Schritt in den Fluss bereits übertreten ist oder erst mit dem Erreichen des anderen Ufers. Selten findet man einen scharfen Grat, der eine exakte Grenzlinie bildet und insofern keinen Spielraum zulässt. Die natürliche Grenze ist mit einer Ambivalenz verbunden, die die künstliche Grenze auszumerzen versucht.
In der Aneignung von Territorien ist in dem Moment eine Grenzziehung notwendig, in dem die Macht- oder Wirtschaftsverhältnisse es erforderlich machen, Unterscheidungen zu manifestieren. Stellt Landbesitz einen Wert dar, muss dieser gegen die Ansprüche anderer gesichert werden. Sei es der Streit mit dem benachbarten Landwirt, dem Fürstentum oder dem Nachbarstaat, mit der Ziehung einer Grenze werden Besitzansprüche durchgesetzt. „Staatsgrenzen sind politische Linien, gezogen von einer Macht, die ihre Reichweite zu allererst räumlich fixiert.“ Neben der Markierung des Territoriums versuchen Staaten, den Personen- Waren- und Geldverkehr mittels Grenzen zu kontrollieren. Nationale Grenzen beanspruchen für sich die Markierung und damit die Umschließung eines Nationalstaates mit einem Nationalvolk, das durch gemeinsame Herkunft, Sprache oder Kultur einen Zusammenhalt bildet. In der historischen Entwicklung herrscht jedoch selten Einigkeit über den konkreten Grenzverlauf, er ist in der Regel in Jahrhunderte währenden Streitigkeiten, Kriegen und Verträgen definiert und verändert worden. Nationale Grenzen stellen von daher nicht zwangsläufig eine unveränderliche Tatsache dar, wie sich an den sehr unterschiedlichen Welt- oder Europakarten, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts hergestellt wurden, deutlich ablesen lässt. Imperialistische Expansionen und Kriege tragen nachhaltig zu veränderlichen Grenzverläufen bei.
Auf politischen Karten sind die Grenzen zwischen Staaten klar eingezeichnet. Die Nachbarländer unterscheiden sich farblich voneinander, die Grenzen sind durch Linien markiert. Die trennende Funktion der Grenzlinie lässt sich plausibel nachvollziehen. Die Sichtbarkeit von Staatsgrenzen im Raum variiert je nach dem Interesse einer Regierung, den Staat von seinen Nachbarn abzugrenzen. Die Kontrolle der Staatsgrenzen ist eine wichtige Form der Machtausübung. Der Staat entscheidet, welche Menschen und Güter zu welchen Konditionen das Staatsterritorium verlassen beziehungsweise dessen Boden berühren dürfen. Eng verknüpft mit der Existenz der Grenze sind Handels- und Zollbestimmungen, sowie das Recht, das Land betreten, verlassen oder Aufenthalt beantragen zu dürfen. Abhängig davon, wie wichtig einem Staat die Kontrolle seiner Grenzen ist, wird er unterschiedliche, dazu notwendige Maßnahmen ergreifen. In der Europäischen Union sind beispielsweise mit In-Kraft-Treten des Schengener Abkommens, in dem die Staaten der EU die Freizügigkeit zwischen den einzelnen Ländern vereinbart haben, die Binnengrenzen kaum noch wahrnehmbar. Es gibt keine Grenzkontrollen und keine Grenzbefestigungen mehr. Diese Maßnahmen wurden an die EU-Außengrenzen verlegt. An den Ost- und Südgrenzen sind die Sicherungsmaßnahmen überdurchschnittlich erhöht worden, dort soll jede unkontrollierte Durchlässigkeit verhindert werden. Die Überwachung der Grenze wird mit hohem Aufwand betrieben.
Die Beweggründe für die umfassende Kontrolle der Grenzlinie können sehr unterschiedlich sein. Während die DDR 1961 durch den Mauerbau unter weltweiter Beachtung versuchte, die eigene Bevölkerung an der Ausreise zu hindern – auch wenn dies propagandistisch mit dem Schutz vor den imperialen Machenschaften des Westens begründet wurde –, verstärkten die USA in den 1990er Jahren ihre Südgrenze ohne große internationale Aufmerksamkeit, um die illegale Einwanderung aus und über Mexiko zu erschweren. Diese Mauer soll selbstverständlich keinesfalls die Ideale von Freiheit und Freizügigkeit der US-amerikanischen Gesellschaft infrage stellen. Die Grenzbefestigung zwischen den USA und Mexiko markiert nicht nur die Grenze zwischen zwei Staaten, sie ist auch Symbol für die Unterschiede der so genannten Ersten und Dritten Welt, zwischen dem Reichtum der nördlichen und der Armut der südlichen Hemisphäre.
Die Grenze zwischen den USA und Mexiko symbolisiert zahlreiche Fassetten des Diskurses über die Grenze. Sie ist Staatsgrenze, die weithin sichtbar durch eine 3300 km lange Mauer markiert ist. Sie ist ein für alle sichtbares Symbol zwischen reich und arm und dokumentiert damit einen hinlänglich bekannten Status quo. In Zeiten der Bedrohung durch Terrorismus hat sie zusätzlich an Bedeutung gewonnen, soll sie nicht nur illegale Immigration und Drogenschmuggel einschränken, sondern eine wichtige Funktion in der Sicherung des Landes übernehmen. Die Präsenz der Grenze und die damit zusammenhängenden Implikationen beeinflussen nachhaltig die Grenzregion. Sie wird durch die Bedingungen der Grenze geformt und unterscheidet sich dadurch von den Gegebenheiten der Länder außerhalb dieses Bereichs. Im Grenzgebiet entsteht folglich eine Art Grauzone, die einerseits auf eine verstärkte Durchlässigkeit im so genannten kleinen Grenzverkehr zurückgeführt werden kann, andererseits jedoch auch durch die besonderen ökonomischen Bedingungen entsteht.
Die Tatsache, dass die US-mexikanische Grenze exemplarisch für die Bedeutung von Grenzen im Allgemeinen gesehen werden kann, macht sie für eine künstlerische Auseinandersetzung interessant. Zahlreiche KünstlerInnen beziehen sich direkt oder indirekt auf ihre Präsenz. Dies betrifft nicht nur KünstlerInnen aus den beiderseitigen Grenzregionen, die mit der Situation regelmäßig konfrontiert sind, sondern auch Kunstschaffende aus anderen Ländern und Regionen. Die Mauer und der Grenzstreifen sind visuell sehr präsent. Im Gegensatz dazu steht die technologische Hochrüstung des Grenzgebietes, die aber, beispielsweise durch den Einsatz von Flutlichtanlagen und Helikoptern, nur partiell sichtbar wird. Die Nutzung von Infrarotkameras oder der jüngst diskutierte Einsatz unbemannter Drohnen zur Überwachung des Grenzgebietes deuten auf eine weitere Technologisierung im Bereich von Kontrolle und Überwachung. Durch den hohen Technik- und Personaleinsatz scheint auf den ersten Blick ein illegaler Grenzübertritt völlig aussichtslos. Trotzdem versuchen es diejenigen, die nichts mehr zu verlieren haben, immer wieder. Werden sie aufgegriffen und zurück geschickt, machen sie möglicherweise noch in derselben Nacht oder direkt am nächsten Tag einen neuen Versuch. In dem Einführungstext „Kulturelle Brechungen“ zum Ausstellungsteil „Grenzen“, eines umfangreichen Programms mexikanischer Kunst zu Gast in Berlin, spricht der Kurator José Manuel Valenzuela Arce von „jährlich 300 Millionen Grenzübertritten, 1,5 Millionen Festnahmen durch die Grenzpatrouillen im Jahr 2001, und 1.233 Personen, die im selben Jahr versuchten, ohne Papiere über die Grenze zu kommen und dabei starben.“ Diese Zahlen verdeutlichen die gesellschaftspolitische Relevanz, die eine Auseinandersetzung mit dieser spezifischen Grenze hat. Deren vielschichtige Bedeutungsebenen spiegeln sich im künstlerischen Umgang mit ihr wider. Anhand von Beispielen sollen hier einige Aspekte aufgezeigt werden.
Beispiele
There and Gone
Bereits Anfang der 1990er Jahre fotografierte der 1946 geborene amerikanische Künstler John Gossage an der US-mexikanischen Grenze zwischen Tijuana und San Diego. Anders als in den späteren Arbeiten von europäischen KünstlerInnen stellt seine Arbeit „There and Gone“ nicht die politische Situation in den Vordergrund. Gossage beschäftigt sich weniger mit den wirtschaftlichen und politischen Implikationen und deren Auswirkungen auf die Menschen. Vielmehr erscheint in seiner Arbeit die Grenze als Auslöser einer diffusen Sehnsucht. Die Grenze markiert hier eine Linie zwischen Erreichbarem und Unerreichbarem. Für ihn als US-Amerikaner, der auch ausschließlich auf der US-amerikanischen Seite fotografiert, liegt die Unerreichbarkeit jedoch nicht im Betreten eines fremden Landes. Die Sehnsucht und Ferne spiegelt sich eher in der Tatsache, dass es nie möglich sein wird, das Leben oder Gefühl der Zugehörigkeit zu einem anderen Land tatsächlich zu erfahren. In einem Interview mit Thomas Weski sagt Gossage: „nur ein Mexikaner könne eine individuelle mexikanische Geschichte erzählen“ , weshalb er sich darauf beschränkt, das Geschehen von seiner Seite, von den USA aus, zu beobachten. „Ich gehöre zur ‚Ersten Welt‘, und es hat mich sehr neugierig gemacht, einen Teil der Welt zu fotografieren, der mir verwehrt ist. Die einzige Möglichkeit, mich überhaupt irgendwie dazu berechtigt zu fühlen, war, die Position uneingeschränkt zuzugeben.“ Die Grenze stellt für Gossage eine Linie dar, die kaum zu überwinden ist, weshalb er sie als gegeben akzeptiert und in seiner Arbeit ihr Vorhandensein reflektiert.
Das Buch „There and Gone“ zeigt 124 schwarz-weiß Fotografien. Es ist in drei Kapitel unterteilt, die sich formal und inhaltlich stark voneinander unterscheiden, insgesamt aber versuchen, die Atmosphäre in der Grenzregion zu spezifizieren. Die Präsenz der Grenze wirkt sich auf das gesamte Dasein in diesem Bereich aus. Auch wo sie nicht sichtbar ist, prägt sie das Geschehen.
[Abb. 1]
Das erste Kapitel beginnt am Meer. Schemenhaft zeichnen sich die Silhouetten von Menschen am Strand ab. Die grobkörnigen Bilder sind mit einem extremen Teleobjektiv gemacht und bekommen dadurch einen stark beobachtenden Charakter. Der Fotograf tritt als Akteur nicht in Erscheinung. Er steht auf der anderen Seite des Grenzzauns, welcher sich immer wieder ins Bild schiebt. Die Menschen, die schemenhaft dargestellt sind und sich nicht als Personen identifizieren lassen, befinden sich auf der mexikanischen Seite. Die meisten Bilder zeigen Menschen, die den Strand als Freizeitraum nutzen: Spielende Kinder, Familien, Menschen, die sich in der Brandung zu vergnügen scheinen. Die Perspektive und die fototechnische Umsetzung brechen jedoch die Szenerie. Die durch die Gegenlichtsituation schwarzen Schemen widersprechen dem Eindruck der Sommerfrische. Immer wieder werden in den Bildern Individuen hervorgehoben. Sie sind ebenfalls nicht deutlich erkennbar, verstärken in ihrer Einsamkeit und Isolation jedoch die beklemmende Atmosphäre, die den Bildern innewohnt. Nicht nur die Grenze zwischen den beiden Staaten – oder zwischen Armut und Reichtum – wirft ihre Schatten, auch die natürliche Grenze zwischen Kontinent und Ozean erhält hier eine wichtige Rolle. Das Thema Grenze wird im ersten Kapitel umrissen, gleichzeitig scheint aber alles offen.
Im zweiten Kapitel spielen Menschen nur noch in ihrer Abwesenheit eine Rolle. Waren sie im ersten Kapitel die Hauptakteure, folgt Gossage im zweiten Kapitel ihren Spuren. Hier sind es jedoch nicht mehr Familien, die sich am Strand vergnügen, sondern diejenigen, die ihre Heimat verlassen und illegal in die USA einreisen. Gossage verfolgt die Spuren derjenigen, die nachts heimlich über den Grenzzaun klettern und versuchen, möglichst unentdeckt aus der Grenzregion zu entkommen. Das Kapitel beginnt mit einem Bild von Fußspuren im Sand. Hier wird eine Brücke zum ersten Kapitel geschlagen. Anders als Spuren am Strand führen diese jedoch nur in eine Richtung: nach Norden. Gossage begibt sich in den Hügeln auf Spurensuche. Im zweiten Kapitel vertauscht er die Grobkörnigkeit der Bilder aus dem ersten Kapitel gegen feinkörnige Präzision und selektive Schärfe. Er verfolgt Trampelpfade und findet häufig Spuren derjenigen, die hier entlanggelaufen sind. Eine verlorene Zigarette, eine achtlos weggeworfene Hose oder aber platt gedrückte Stellen im Gebüsch werden fokussiert. Die Spuren erzählen Geschichten, von denen man das Ende nicht erfährt. Das Kapitel schließt mit dem Bild einer schmalen Teerstraße, jedoch bleibt es auch hier unklar, ob ihr Erreichen Erfolg verspricht.
Das dritte Kapitel unterscheidet sich nochmals von den vorhergehenden. In ihm wird eine suburbane Welt auf Details hin untersucht. Waren in den vorherigen Kapiteln immer Bildpaare auf Doppelseiten präsentiert, werden nun einzelne Bilder mit spanischen Begriffen von mexikanischen Lotteriekarten kombiniert. Die Worte haben nichts mit dem Abgebildeten zu tun, sie unterstreichen jedoch die Fremdheit, die vertraute Dinge in Gossages Fotografien bekommen. Im dritten Kapitel gewinnt das Zusammenspiel von Licht und Schatten zunehmend an Bedeutung. Noch stärker als in den vorangehenden Kapiteln gibt es den Dingen ein Eigenleben, das sie von ihrer alltäglichen Wahrnehmung entfremdet erscheinen lässt. Rückblickend wird noch einmal die extreme Gegenlichtsituation, die das erste Kapitel prägte, betont, so dass nun deutlich wird, dass es Lichter und Schatten sind, die die Atmosphäre in Gossages Bildern schaffen. Durch den gezielten Einsatz des Lichts schafft er eine dichte, schwer zuzuordnende Atmosphäre. Im letzten Kapitel wird deutlich, dass es Gossage nicht um eine Bewertung der Grenze und ihrer Bedingungen geht, sondern dass er sich mit feinem Gespür für die unterschiedlichen Aspekte aufmacht, sie darzustellen, ohne gezielt die einzelnen Implikationen zu benennen. Von daher gelingt es ihm, ein atmosphärisches Bild von der Grenzregion zu schaffen, das die tieferen Bedeutungsebenen der Grenze anklingen lässt. Die Grenzregion wird zu einem Nicht-Ort, der sich einer spezifischen Zuschreibung entzieht und als Raum für Wünsche, Sehnsüchte und Hoffnungen vieles offen lässt.
The Rules of the Game
Von der anderen Seite her – der mexikanischen – nähert sich der 1970 geborene mexikanische Künstler Gustavo Artigas der Grenzregion. Sein zweiteiliges Video „The Rules of the Game“ entstand im Jahr 2000. Der erste Teil spielt in der Turnhalle einer Schule in Tijuana. Auf dem Feld spielen zwei mexikanische Fußballmannschaften gegeneinander, gleichzeitig spielen jedoch zusätzlich noch zwei US-amerikanische Teams Basketball auf demselben Feld. Das Szenario scheint zunächst äußerst unfallträchtig, erstaunlicherweise können alle Mannschaften jedoch weit gehend problemlos ihr Spiel verfolgen. Den Hintergrund dieser Arbeit bildet die Vorstellung davon, dass in einer Region alle Parteien friedlich miteinander leben können und jede ihren eigenen Interessen nachgeht, ohne andere zu behindern. Artigas plädiert dafür, das Gemeinsame stärker zu betonen als das Trennende, so dass eine Koexistenz ohne Konkurrenz möglich wird. In dem Video scheint dies als Utopie auf, die sich im wirklichen Leben der Grenzregion kaum realisieren lässt. Das Video zeigt das Spiel nicht in voller Länge, sondern einen schnellen flüssigen Spielverlauf, der deutlich macht, dass diese Utopie im Kleinen tatsächlich realisierbar ist.
[Abb.2]
Der zweite Teil der Arbeit widmet sich wiederum dem Ballspiel. Diesmal baut Artigas ein Spielfeld direkt an der Grenzmauer im Viertel Colonia Libertad, einem Stadtteil von Tijuana, wo sich diejenigen sammeln, die versuchen wollen, illegal in die USA einzuwandern. Eine hohe Wand schirmt das Spielfeld gegen den Grenzzaun ab. Das Video zeigt, wie Einheimische das Spielfeld in Besitz nehmen. Der Ball fliegt hin und her und immer wieder über die Grenzmauer, so dass er zurückgeholt werden muss. Das Ballspiel symbolisiert die Situation der EmigrantInnen, die immer wieder von den US-Grenzpatrouillen festgenommen und zurückgebracht werden. Sie lassen sich dennoch nicht abschrecken und wagen den Grenzübertritt immer wieder von Neuem, bis er eines Tages gelingt. Artigas realisierte die Arbeit für das 4. Insite Festival 2000, ein binationales Ausstellungsprojekt in San Diego und Tijuana. Er setzt sich mit den Gegebenheiten des Grenzgebietes auseinander, ohne in einem dokumentierenden Sinn die Grenze selbst aufzusuchen. Sie ist im zweiten Teil des Videos lediglich im Hintergrund sichtbar. In der Übertragung auf die Spielsituationen gelingt es Artigas, auf die komplexe politische Situation zu verweisen. Ähnlich wie Gossage wertet er nicht. Subtil deutet er an, dass existierende Spielregeln modifiziert werden können, ohne dass darauf zwangsläufig ein Chaos folgt. Die Grenze erscheint hier in Form einer Metapher, deren Auslegung die BetrachterInnen ihrer eigenen Situation entsprechend vornehmen können.
From the Other Side
[Abb. 3]
Die belgische Filmemacherin Chantal Akerman (Jahrgang 1950) widmet sich dem Thema der US-mexikanischen Grenze als Europäerin, die bereits in ihrer Dokumentation „D’Est“ (1993) Grenzen überschritten hat. In dem Film „From the Other Side“ von 2002 begibt sich die Regisseurin an die Grenze zwischen Mexiko und dem US-Bundesstaat Arizona. „From the Other Side“ existiert einerseits in einer 99-minütigen Filmfassung, wurde auf der Documenta 11 jedoch als Installation parallel auf zahlreichen Fernsehmonitoren, die einzelne Szenen aus dem Film zeigten, präsentiert. Akerman trägt Material von beiden Seiten der Grenze zusammen. Sie führt auf der mexikanischen Seite Interviews mit Menschen, die bereit sind, alles hinter sich zu lassen, da sie nichts zu verlieren haben und sich eine bessere Zukunft von einem Leben jenseits der Grenze versprechen. Die Menschen haben viel Raum zu erzählen, was dem Film eine große Intensität verleiht, da sie nicht kurz auf bestimmte Fragen antworten müssen. Besonders eindrucksvoll ist eine Szene aus einem Camp auf der mexikanischen Seite, in dem sich potenzielle EmigrantInnen sammeln. Um einen Tisch sitzend verliest einer von ihnen ein Manifest, das verdeutlicht, dass diese Menschen nicht einfach auf Wohlstand aus sind, sondern dass sie tatsächlich alles zurücklassen – ihre Heimat, ihre Familien und ihr bescheidenes Hab und Gut – weil sie keinen Ausweg sehen. Einige der Gefilmten halten ihre Gesichter verhüllt, da sie nicht erkannt werden wollen, viele haben Tränen in den Augen. In dieser Szene wird vieles von der Verzweiflung deutlich, die die Menschen dazu treibt, ihr Leben zu riskieren und es zu wagen, sich in der Hitze durch die Wüste auf den Weg in ein vermeintlich besseres Leben zu machen. Etliche der im Film interviewten MexikanerInnen haben Freunde und Verwandte verloren, die auf der illegalen Einreise in die USA gestorben sind. Akerman führt auch Gespräche mit Menschen auf der US-amerikanischen Seite, die Angst vor einer Invasion von MexikanerInnen haben und um ihr Hab und Gut fürchten. Gleichzeitig profitieren jedoch die meisten von ihnen direkt oder indirekt von den Vorteilen der billigen mexikanischen Arbeitskräfte, die die amerikanische Wirtschaft wettbewerbsfähig halten. Akerman versucht in ihrem Filmessay Distanz zu den Geschehnissen zu halten und einen ausgewogenen Eindruck der Grenzsituation zu schaffen. So wie sie ihren InterviewpartnerInnen Raum lässt, gibt sie in den Bildern der Landschaft Raum. Zusätzlich verwendet sie Bildmaterial der US-Grenzpatrouillen, die durch den Einsatz von Wärmekameras den Aufenthaltsort von Menschengruppen im Grenzgebiet von Hubschraubern aus orten. Die Architektur der auf der Documenta 11 gezeigten Installation führt dazu, dass der Film nicht mehr linear angeschaut werden kann. Er wird in Fragmenten und einzelnen Szenen wahrgenommen, so dass möglicherweise nicht alle Aspekte gleichermaßen von den BetrachterInnen berücksichtigt werden. Allerdings gibt diese Präsentation die Möglichkeit, einen Eindruck von der Komplexität des Materials zu gewinnen und selbst zu entscheiden, welchen Bildern mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird.
Im Gegensatz zu den bislang vorgestellten Arbeiten geht Akerman wesentlich konkreter auf das Problem der Emigration und illegalen Grenzüberwindung ein. Durch die verschiedenen Stellungnahmen der unterschiedlich Betroffenen und die unkommentierten Bilder von Land- und Ortschaften wird die Komplexität des Emi- und Immigrationsproblems an der Grenze deutlich spürbar.
Performing the Border
[Abb. 4]
Die 1955 geborene schweizer Künstlerin Ursula Biemann beschäftigt sich in ihrem Video „Performing the Border“ von 1999 ebenfalls mit den Bedingungen der Grenze zwischen den USA und Mexiko. Am Beispiel von Ciudad Juarez, der Schwesterstadt von El Paso auf der mexikanischen Seite, geht sie den Auswirkungen der Grenze auf das Leben der Frauen im Grenzgebiet nach. In zahlreichen Interviews mit Frauenrechtlerinnen und Aktivistinnen spürt sie einem komplexen Beziehungsgeflecht von Armut, Industrialisierung und deren Auswirkungen auf das Leben der Frauen nach. Die Grenze wird hier als ein performativer Raum begriffen, der durch die Handlungen der verschiedenen Beteiligten seine Präsenz bezieht. Die legale Grenzüberschreitung ist aber lediglich für Waren und Kapital in beide Richtungen, für die Menschen jedoch nur von Norden nach Süden möglich. In der umgekehrten Richtung bleibt nur die illegale Grenzüberschreitung, die viele Menschen auf sich nehmen, um für sich neue Lebensperspektiven zu entwerfen, durch Schmuggel von Waren oder Menschen Geld zu verdienen oder aber um beispielsweise schwangeren Frauen zu helfen, ihre Kinder als amerikanische Staatsbürger auf die Welt zu bringen.
Das Video berichtet über amerikanische High-Tech-Unternehmen im mexikanischen Grenzland, die von der billigen Arbeit der Frauen profitieren. Deren Möglichkeit, eigenständig Geld zu verdienen, hat ihre Situation nachhaltig verändert. Dies wirkt sich auch auf das traditionelle soziale Gefüge aus. Die mexikanische Regierung, für die die so genannten Maquiladoras einen wichtigen Wirtschaftsfaktor darstellen, sorgt dafür, dass die Frauen sich nicht organisieren können. Die Grenze wirkt sich auf die ganze Region aus. Güter und Kapital können, abgesichert durch Handelsabkommen zwischen den Regierungen, die Grenze überwinden, während die Menschen daran gehindert werden. Prostitution, Schmuggel, Verbrechen können sich in dieser scheinbar undefinierten Zone ausbreiten, die Leidtragenden sind meist Frauen. Die Bilder des Videos zeigen eine in die Wüste gebaute Stadt ohne Infrastruktur kontrastiert mit gut bewachten High-Tech-Fabriken, in denen elektronische Produkte für den weltweiten Vertrieb produziert werden. Die Technologien, die eine Grenzüberschreitung ermöglichen, beispielsweise internetfähige Computer und Netzwerktechnik, werden hier hergestellt. Die großen Unterschiede, welche die Globalisierung für Menschen unterschiedlicher Herkunft bedeutet, werden hervorgehoben. Vom Reichtum, der in den Fabriken erarbeitet wird, profitiert die Region nicht.
Biemann zeigt ein desolates Bild einer Region, die nicht zum Verweilen einlädt, die Transitraum sein möchte, doch oft genug dauerhafter Aufenthaltsort bleibt. In Biemanns Video ist die Grenze nicht nur Trennlinie, sie ist Wunde oder Narbe, die ihr Umfeld prägt. „Performing the Border“ versucht nicht, auf die beiden Seiten der Grenze einzugehen, sondern ist ein Plädoyer für die Neuordnung der Verhältnisse, die alles andere als gerecht sind.
Die vier vorgestellten Arbeiten, die sich mit der US-amerikanisch/mexikanischen Grenzsituation beschäftigen verweisen auf die Vielschichtigkeit der Grenze und ihrer Bedingungen, die wesentlich mehr beinhalten als eine politisch-geografische Situation. Diese Auswahl von Arbeiten stellt lediglich einen geringen Bruchteil künstlerischer Äußerungen zu diesem Thema dar. Insbesondere in der Grenzregion selbst werden auf Festivals regelmäßig Arbeiten gezeigt, welche die Bedingungen der Grenze reflektieren.
Grenzraum als Nicht-Ort
In den künstlerischen Arbeiten wird deutlich, dass die Grenze nicht nur als trennende Linie zu verstehen ist. Vielmehr bedingt ihre Existenz eine Veränderung des Raumes in Grenznähe, da sich die Präsenz der Grenze hier in besonderer Weise auswirkt. Die Grenzregion ist ein transitorischer Raum. Es entsteht im Sinne von Marc Augé ein Nicht-Ort. „So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt, einen Nicht-Ort.“ Besonders in dem Video von Ursula Biemann wird deutlich, dass es sich bei der Grenzregion um einen solchen Nicht-Ort handelt. Die Grenzregion selbst ist nicht im klassischen Sinne historisch gewachsen, ihr Zustand wird diktiert von multinationalen Konzernen, von den Beziehungen zwischen den Staaten und den damit verbundenen ökonomischen Verhältnissen. Die Menschen, die sich in der Region ansiedeln, kommen häufig von weit her. Sie haben ihre Familien verlassen, kommen allein oder in Gruppen, um in den Fabriken der Großunternehmen zu arbeiten. Sie sind keine Individuen mehr sondern austauschbare Kräfte in einem grenzüberschreitenden System. Sie nehmen sich Land, um aus Resten aus den Fabriken Behausungen zu zimmern, die ebenfalls keine Individualität zulassen oder aufweisen. Es herrscht eine relative Anonymität. Der Nicht-Ort erzeugt eine mit anderen „geteilte Identität“. Das Individuum verliert an Bedeutung, es ist Teil des Systems, ausgestattet mit einer Rolle, die ihm seinen Platz und seine Identität als FabrikarbeiterIn, Prostituierte, Flüchtling, GrenzgängerIn zuweist und damit einen Handlungsspielraum eröffnet, der schwer zu durchbrechen ist. „Allein, aber den anderen gleich, befindet sich der Benutzer des Nicht-Ortes mit diesem (oder den Mächten, die ihn beherrschen) in einem Vertragsverhältnis. Die Existenz dieses Vertrages wird ihm bei Gelegenheit in Erinnerung gerufen (die Benutzungsordnung des Nicht-Ortes gehört dazu).“ Dies geschieht in Form von Kontrollen. Sei es die Identitätskontrolle am Fabriktor der Maquiladora, die Grenzkontrolle oder aber deren Vermeidung, sie bestätigen die Identität und die Existenz des anonymen Individuums, das durch seine Handlung (zum Beispiel Arbeit, illegale Grenzüberschreitung) definiert wird. Augé definiert den Ort als einen anthropologischen Ort, dem die Handlung gleichsam eingeschrieben ist.
Hierin unterscheidet sich seine Argumentation von der Michel de Certeaus, der zwischen Ort und Raum unterscheidet. „Ein Ort ist also eine feste Konstellation von Punkten. Er enthält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität. […] Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten. […] Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht.“ Das Performative ist dem Raum nach Certeau inhärent. Im Video Performing the Border von Ursula Biemann sagt die Aktivistin Bertha Jottar: „You need the crossing of bodies for the border to become real, otherwise you just have this discursive construction. There is nothing natural about the border; it’s a highly constructed place that gets reproduced through the crossing of people, because without the crossing there is no border, right? It’s just an imaginary line, a river or it's just a wall.” Die Präsenz der Grenze ist eng verbunden mit der Handlung der Überschreitung. Diese prägt den Raum als transitorischen Raum und damit als Nicht-Ort oder aber auch als Heterotopie im Sinne von Michel Foucault. 1967 beschreibt dieser die „Epoche des Raumes“ : „Wir sind in der Epoche des Simultanen, wir sind in der Epoche der Juxtaposition, in der Epoche des Nahen und des Fernen, des Nebeneinander und des Auseinander.“ Diese Parallelen manifestieren sich im Grenzraum, wo sie durch die Grenzlinie gleichermaßen getrennt und verbunden werden. In Foucaults Theorie der Räume existieren einerseits die Utopien, andererseits die Heterotopien, als „Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können“ . Der Grenzraum kann als solcher Ort definiert werden, da er ein Ort des Transits ist, jedoch auch des Verweilens. Hier erfährt die Idee der Passage ihr Scheitern sowie ihre Umsetzung. „Die Heterotopie vermag an einem einzigen Ort mehrere Räume, mehrere Platzierungen zusammenzulegen, die an sich unvereinbar sind.“ Dieses Nebeneinander findet in der Grenzregion statt, wo beispielsweise Reichtum und Armut nur durch eine schmale Grenzlinie voneinander getrennt liegen. Die Idee der Passage vereint die verschiedenen theoretischen Konzeptionen der Heterotopie und der Nicht-Orte. Die Passage verwandelt nach Certeau den Ort in einen Nicht-Ort . Der Transit und die fehlende Individualität prägen den Nicht-Ort nach Augé. Die Heterotopien nach Foucault „setzen immer ein System von Öffnungen und Schließungen voraus, das sie gleichzeitig isoliert und durchdringlich macht.“
Die Grenzregion ist geprägt durch die Unterscheidungen, die an der Grenze getroffen werden. Einerseits sind es die Unterscheidungen zwischen Nationalität oder ökonomischer Prosperität der hier aufeinander treffenden Staaten. Andererseits handelt es sich um die Differenzierung zwischen legaler und illegaler Überwindung der Grenze durch Menschen, Waren, Kapital. Diese Faktoren prägen die Grenzregion als ganze und machen sie so zu einem besonderen Gebiet, das sich vom Rest des Landes unterscheidet.
Globalisierung und neue Grenzziehungen
Die Grenze ist ohne ihre Überwindung nicht denkbar. Die Grenzüberwindung schlechthin ist durch den Begriff der Globalisierung markiert. Die Idee der nicht mehr vorhandenen Grenze ist jedoch trügerisch, da Grenzen, die aufgehoben oder überwunden werden, meist durch andere Grenzen ersetzt werden. Dies kann eine Verschiebung im Geografischen bedeuten, aber auch die Entstehung neuer Grenzen in völlig anderen Bereichen zur Folge haben. Die Überwindung der Grenze ist in der Diskussion um Fragen der Globalisierung allgegenwärtig, weshalb es angebracht scheint, dieses Begriffsfeld genauer zu umreißen. Wir sprechen von der Gegenwart als dem Zeitalter der Globalisierung. Der Begriff Globalisierung steht für die Überwindung von Grenzen und das ‚Zusammenrücken‘ der Länder und Kontinente über geografische und zeitliche Begrenzungen hinweg. Positiv konnotiert bedeutet dies die Nivellierung von sozialen, politischen und ökonomischen Spaltungen der Welt. Im Zusammenhang mit global operierenden Großkonzernen haftet dem Begriff jedoch eine negative Bedeutung an, die mit der Vereinheitlichung von völlig unterschiedlich geprägten Gesellschaften und Kulturen nach westlichem Vorbild, sowie der Ausbeutung der Weltressourcen durch die Industrienationen in Verbindung gebracht wird. Die unsozialen und gewinnorientierten Praktiken der Konzerne haben in den neunziger Jahren eine Protestbewegung ausgelöst, die ebenfalls global arbeitet und versucht, die Chancen und Möglichkeiten in den Globalisierungsprozessen zu entdecken und für Veränderungen und Gegenstrategien zu nutzen. Der Fall des eisernen Vorhangs Ende der achtziger Jahre markiert einen Ausgangspunkt in der Beschleunigung des Globalisierungsprozesses. Historisch lässt sich der Beginn der Globalisierung vermutlich sehr weit zurückdatieren. Bereits Marco Polo und Christoph Columbus waren Vertreter der Idee einer globalisierten Welt. Indem sie die Grenzen der bekannten Welt überschritten, legten sie den Grundstein für nachfolgende Prozesse.
Das Medium, das den Globalisierungsprozess am ehesten symbolisiert, ist das Internet. Unabhängig von zeitlichen und räumlichen Bedingungen können wir unser virtuelles Selbst in verschiedene Kontinente transportieren. Dieses Medium stattet uns mit einem hohen Grad an Mobilität aus, wenn man nicht von einer körperlichen Mobilität sondern einer medialen Präsenz spricht. Geprägt ist das Internet, insbesondere das World Wide Web jedoch von einer westlichen Weltanschauung. Die grenzüberschreitenden Medientechnologien sind ohne Frage Teil des Globalisierungsprozesses, sie sind an sich jedoch wertfrei. In den Online-Medien werden noch andere Grenzen als die nationalen überwunden, was in Verbindung mit Marketingstrategien von multinationalen Großkonzernen zu dem negativen Sinnbild einer globalisierten Welt geworden ist. Online-Medien besitzen nicht nur die Eigenschaft, Grenzen zu überwinden, bereits in der ihnen eigenen Form der Nutzung zeichnen sie sich durch die Aufhebung existierender Grenzen aus. „Der Geburtsort dieser ehrgeizigen Form der Markenpolitik ist das Internet, in dem es nie eine rigide Trennung zwischen redaktionellen und werblichen Inhalten gab. Im Netz erreicht die Marketingsprache ihr Nirwana, die werbungsfreie Werbung.“
Die Nutzung des Mediums WWW erlaubte die Entwicklung neuer Marketingstrategien, wie sie beispielsweise der Konzern Nike entwickelt hat. Diese Strategien haben sich auch KünstlerInnen, die mit und im Internet arbeiten zu Nutze gemacht und entwickeln Möglichkeiten von Kritik an der Macht der global operierenden Konzerne. Die Künstlergruppe 0100101110101101.org hat gemeinsam mit den Wiener Internetaktivisten Public Netbase ein Projekt entwickelt, das sowohl in den öffentlichen Raum eingreift als auch im WWW präsent ist.
[Abb. 5]
Das Projekt Nike Ground annektiert die Sprache der aggressiven Marketingpolitik des global operierenden Unternehmens. Auf der Website www.nikeground.com, die so daher kommt, wie man es von der Firma Nike erwarten würde, wird verkündet: „Der Ort, an dem das revolutionäre Nike Ground Projekt erstmals präsentiert wird, ist einer der bekanntesten Plätze Europas: Der Karlsplatz in Wien. Ab 1. Januar 2004 wird der Karlsplatz Nikeplatz heißen.“ Auf dem Karlsplatz wurde im Oktober 2003 ein Pavillon erreichtet, der mit dem Nike-Logo versehen ist und in dem für die neue Strategie des Konzerns, Straßen und Plätze in Städten umzubenennen, geworben wird. Wien sei lediglich die erste Stadt in diesem Projekt, weitere werden folgen, heißt es. Gleichzeitig solle ein riesiges Denkmal des Nike-Logos – dem Swoosh – errichtet werden, das in seinen Dimensionen sogar vom Mond aus sichtbar wäre. Diese Erklärung führte sofort zu Protesten von Wiener BürgerInnen und die Firma Nike sah sich genötigt, ein Dementi herauszugeben, sowie rechtliche Schritte wegen Verletzung des Markenschutzes anzudrohen. Die KünstlerInnen thematisieren durch dieses Fake die Marketingstrategien solcher global agierender Unternehmen und machen so auf Tendenzen der Globalisierung aufmerksam. In der Aneignung dieser Strategien durch KünstlerInnen wird deutlich, dass es auf die Art der Mediennutzung ankommt. So wie die Anwendung der Technologien durch Konzerne im Negativen die Grenzüberschreitungsmöglichkeiten ausnutzen, können sie ebenfalls von ihren GegnerInnen und KritikerInnen genutzt und ins Positive gewendet werden.
Erst der Einsatz der Technik gibt Auskunft darüber, ob es gelingen kann, der Grenzüberschreitung durch die Medien positive Aspekte abzugewinnen. Regula Burri schreibt zu ihrem Projekt „transmitting no. 1–3“: „Medientechnik hat im Globalisierungsprozess nicht nur die Überschreitung von Grenzen im Sinne einer Universalisierung kultureller Codes zur Folge, sondern kann ebenso eine Adaptierung, Vereinnahmung oder Umdeutung dieser Codes durch spezifische lokale Praktiken bedeuten. In beiden Fällen ermöglicht Technik eine Öffnung kultureller Räume, ein Bewegen und Fließen zwischen ihnen.“
Die Prozesse der Globalisierung nivellieren gewisse traditionelle Grenzen. Gleichzeitig tragen sie zu neuen Grenzziehungen bei. Im Zusammenhang mit der Entwicklung des World Wide Web wurde immer wieder davon gesprochen, dass Medien nicht nur konsumiert werden können, sondern nun auch ohne viel Geld oder technisches Know-how als Produktions- und Distributionswerkzeug zur Verfügung stehen. Sicherlich stellt ein Computer heutzutage eine relativ erschwingliche Investition dar und es gibt Programme, die leicht zu erlernen sind und die es ermöglichen, relativ problemlos Inhalte ins Netz zu stellen. Dies ist jedoch unsere Perspektive, wir sind mit ausreichenden finanziellen Mitteln ausgestattet, die dabei helfen, durch Medieneinsatz Grenzen zu überwinden. Wir zählen Computer und funktionstüchtige Telefonleitungen zu Dingen, die uns im täglichen Gebrauch relativ unproblematisch zugänglich sind. Damit gehören wir zu den privilegierten BewohnerInnen der westlichen Hemisphäre, die von der Globalisierung grundsätzlich zu profitieren scheinen. Auf der anderen Seite ist die Produktion von Inhalten für die Neuen Medien auch in unseren Breitengraden trotz allem eher einer gebildeten Schicht möglich. Den Menschen, die keine Medienkompetenz mitbringen oder vielleicht nicht einmal lesen und schreiben können, bleibt dieses Medium grundsätzlich verwehrt. Die Spaltungen, die so bereits bei uns sichtbar werden, verstärken sich in weniger homogenen Gesellschaften massiv. Nicht nur in armen Ländern gibt es noch zahlreiche Probleme der Zugänglichkeit zu den Kommunikationstechnologien, so dass sich neue Grenzen zwischen Armen und Reichen, zwischen der städtischen und der Landbevölkerung oder zwischen Menschen mit und ohne Ausbildung auftun.
Diese Beispiele sollen demonstrieren, dass Fragen der Grenze gleichzeitig immer auch Fragen des Standpunktes aufwerfen. Meine Sichtweise der Grenze ist nur eine, sie bedingt gleichzeitig eine weitere Sichtweise von der anderen Seite der Grenze, die sich unter Umständen nachhaltig von meiner eigenen unterscheidet. In dem Buch „Empire. Die neue Weltordnung“ verweisen Michael Hardt und Antonio Negri auf eine sich wandelnde Weltgesellschaft unter dem Vorzeichen der Globalisierung. Sie beschreiben ein „Empire“, das jede nationalstaatliche Grenze sprengt. „Die Herrschaft des Empire kennt keine Schranken. Zuallererst setzt der Begriff des Empire ein Regime voraus, das den Raum in seiner Totalität vollständig umfasst, oder anders, das wirklich über die gesamte ‚zivilisierte‘ Welt herrscht. Keine territorialen Grenzziehungen beschränken seine Herrschaft.“ Hardt und Negri verweisen jedoch auf neu entstehende Spaltungen innerhalb des Empire. Das Wegfallen der nationalstaatlichen Grenzen führt nicht zu einer allgemeinen Vereinheitlichung. Im Gegenteil, es bedingt neue Grenzziehungen an anderer Stelle, die die nationalen Grenzen ablösen. „Der allgemeine Ausgleich und die Glättung des gesellschaftlichen Raums, das Verschwinden der Zivilgesellschaft und der Niedergang nationalstaatlicher Grenzziehungen bedeuten allerdings nicht, soziale Ungleichheiten und Spaltungen seien verschwunden. Sie sind im Gegenteil in vielerlei Hinsicht gravierender geworden, haben aber eine andere Form angenommen. Genauer wäre es, davon zu sprechen, dass Zentrum und Peripherie, Norden und Süden nicht länger eine internationale Ordnung definieren, sondern sich einander angenähert haben. Das Empire ist durch die unmittelbare Nähe extremer Ungleichheit in der Bevölkerung gekennzeichnet, was eine Situation permanenter sozialer Gefahren schafft, die wiederum nach den mächtigen Apparaten der Kontrollgesellschaft verlangt, um die Demarkationslinien zu sichern und die neue Ordnung des gesellschaftlichen Raums zu garantieren.“ Die nationalstaatlichen Grenzen waren in vielerlei Hinsicht sichtbar und bildeten einen überschaubaren und nachvollziehbaren Status quo. Die neuen Grenzziehungen sind flexibel und ständigem Wandel unterworfen, sie sind nicht für jeden sichtbar und entziehen sich somit einer möglichen demokratischen Kontrolle.
Schlussbemerkung und Ausblick
Grenzen und Grenzüberschreitung markieren lediglich die Eckpunkte eines Systems, das zeitgenössischen KünstlerInnen einen Anlass bietet, sich auf ganz verschiedenen Ebenen mit den gesellschaftlichen Auswirkungen der Entwicklungen in diesem Gebiet auseinander zu setzen. Die hier nur ausschnitthaft dargestellte künstlerische Praxis zeichnet sich durch eine gesellschaftspolitische Relevanz und Diskursivität aus, die weit über den ästhetischen Wert der Kunstwerke hinaus weisen und so einen eigenen Beitrag zur Reflexion der Bedingungen unserer Lebenswelt leisten. Unabhängig davon, welche Medien Einsatz finden, verweisen die verschiedenen Ansätze auf unterschiedliche Aspekte des Systems von Grenze und Grenzüberwindung. Dies findet teilweise auch in der Überschreitung der Mediengrenzen Niederschlag. Der Film wird zur Installation, der Webauftritt wird ergänzt durch Aktionen im öffentlichen (realen) Raum. Online-Medien erweitern diesen öffentlichen Raum in eine virtuelle Dimension und erzeugen dort Nicht-Orte, die sich durch die Flüchtigkeit ihres Daseins und die Transitorität ihrer NutzerInnen auszeichnen. Die virtuellen Räume eröffnen neue Möglichkeiten der Grenzüberschreitung, deren Dimensionen heute noch nicht in vollem Umfang zu erfassen sind.
Grenzen und Grenzüberschreitung, Grenzräume und Globalisierung sind Parameter, die scheinbar über die Online-Medien miteinander verknüpft sind. Diesen ist eine Grenzüberschreitung bereits inhärent, da sie die bislang bekannten Mediengrenzen aufbrechen. So beschreibt Naomi Klein die fehlende Trennung zwischen werblichen und redaktionellen Inhalten im Internet , es werden jedoch auch Text, Bild, bewegtes Bild und Ton miteinander verbunden. Die Grenzen der Bild- und Textmedien werden innerhalb der Netzmedien aufgehoben. In der Überwindung der Linearität verändern Online-Medien Textfluss und Leseverhalten und weisen damit weit über die Grenzen bislang bekannter Textrezeption und -produktion hinaus. Es entstehen Felder der Grenzüberwindung, die weitere Untersuchungen erfordern. Schon heute bildet die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine eine Grenze, die durch die Entwicklung neuer Interfaces zunehmend verwischt wird. Die Forschung zu künstlicher Intelligenz und hybriden Lebensformen lässt Fragen nach der Identität und der Unterscheidung von Eigenem und Fremden nicht unberührt.
Die Überwindung von Grenzen zieht deren Verschiebung nach sich. Die sichtbaren Grenzen werden zunehmend in nicht sichtbare oder greifbare Dimensionen verlagert. Die Grenze wird amorph und schwer erkennbar. Sie entzieht sich der Beobachtung. Daraus ergeben sich Fragestellungen zu Kontrolle und Kontrollierbarkeit der Grenzen, die wiederum eng verknüpft sind mit Fragen der Machtausübung und des Machtanspruchs. Das Zeitalter der Globalisierung, das Grenzen scheinbar verschwinden lässt, eröffnet ein hoch komplexes Beziehungsgeflecht. Grenze und Grenzüberwindung sind Teile davon, die sich gegenseitig bedingen. Das eine scheint ohne das andere unmöglich.
Bibliografie
Marc Augé, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt 1994
Ursula Biemann, „Performing the Border: On Gender, Transnational Bodies, and Technology“, in: Claudia Sadowsky (Hg.), Globalization on the Line: Gender, Nation, and Capital at U.S. Borders, New York 2001
Regula Burri, „transmitting no 1–3“, in: Ursula Biemann (Hg.), Geografie und die Politik der Mobilität (Kat. Generali Foundation Wien 2003), Köln und Wien 2003
Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988 (1980)
Michel Foucault, „Andere Räume“ (1967), in: Barck, Gente, Paris, Richter (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990
John Gossage, There and Gone, Berlin und New York 1997
Michael Hardt und Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt 2002
E. Horn, S. Kaufmann, U. Bröckling (Hg.), Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten, Berlin 2002
Naomi Klein, No Logo!, München 2002 (4. Auflage, Sonderausgabe)
Bildnachweis:
Abb. 1:
John Gossage, in: There and Gone, S. 24
Abb. 2:
Gustavo Artigas, The Rules of the Game
http://www.universes-in-universe.de/car/venezia/bien49/plat1/e-artigas-7.htm
Abb. 3:
Chantal Akerman, From the Other Side, in: Documenta 11_Plattform 5: Ausstellung/Exhibition. Kurzführer/Short Guide, Ostfildern 2002, S. 15
Abb. 4:
Ursula Biemann, Performing the Border
http://simsim.rug.ac.be/staff/rob/fox/werkleitz4.html
Abb. 5:
Nikeground
http://www.nikeground.com