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Paul Graham: American Night
Weiß ist Licht. Weiß ist Reinheit. Weiß ist Unschuld. Weiß ist Paul Grahams Fotobuch „American Night“. Die „Amerikanische Nacht“ ist nicht nur als Titel eines Films von François Truffaut bekannt, sondern auch als ein Filter in der Filmtechnik, der es erlaubt, Nachtszenen tagsüber zu drehen. Der Tag wird im Film zur Nacht. Die Nacht ist jedoch eine Täuschung. Mit dieser Technik wird das Weiß besonders eindringlich erleuchtet: So entsteht das geheimnisvolle Gleißen von Cary Grants weißem Hemd, mit dem er im Finale des Hitchcock Films „Der unsichtbare Dritte“ in den Präsidentengesichtern am Mount Rushmore herumklettert. Im Englischen heißt dieser Filter „Day for Night“. Auch „American Night“ treibt ein verwirrendes Spiel mit Licht und Dunkel und setzt sich mit den amerikanischen Verhältnissen auseinander.
Der großformatige Band ist ganz in weiß gehalten, der Titel in den weißen Leinenumschlag geprägt. Sämtliche Texte sind weiß auf weiß gedruckt, was das Lesen nur bei guten Lichtverhältnissen möglich und sehr mühsam macht. Fotografie ist Sehen, ist Visualisierung. Doch Graham spielt mit der Möglichkeit, sehend nichts zu sehen. Der Großteil der Fotografien ist viel zu hell, die Helligkeit lässt die Farben verblassen. Es ist schwierig, Details zu erkennen. Die weitwinkligen Aufnahmen zeigen Szenen der urbanen Peripherie oder entvölkerter Zentren amerikanischer Städte. Ausfallstraßen, Parkplätze, heruntergekommene Freiflächen, Sportplätze, Schnapsläden. Die fotografierten Gegenden wirken desolat, unbehaust, menschenleer. Es sind Orte des Transits, die man mit dem Auto durchfährt, um höchstens für eine kurze Rast anzuhalten. Und doch halten sich zwischen Strommasten, Hydranten, zerfallenden Schuppen, alten Werbeschildern und zugemüllten Grundstücken einzelne Menschen auf. In der Bildmitte ist – meist weit entfernt – eine einzelne Figur kaum erkennbar, aber dennoch präsent. Ist in den ersten sechs Fotografien der Abstand sehr groß, verringert sich die Distanz ein wenig im weiteren Verlauf des Buches, ohne jedoch die Möglichkeit zu bieten, Personen oder Szenerie wirklich klar zu erkennen. Die rechtsseitig angeordneten ‚weißen’ Bilder werden unterbrochen durch einzelne korrekt belichtete Fotografien großzügiger Häuser, deren Garagen meist Platz für mehr als zwei Autos bieten. Diese Fotografien sind menschenleer. Lediglich die Autos vor den Türen geben einen Hinweis auf die Bewohner. Die Gegensätze der beiden Bildwelten sind nicht zu übersehen. Die Farbigkeit unterstreicht lediglich, was ohnehin schon bekannt ist: Die Unvereinbarkeit des repräsentativen Wohlstands und solcher Bereiche, die die ausgefransten gesellschaftlichen Ränder markieren.
In fast polemisch zu nennender Haltung zeigt Graham die Sichtbarkeit des amerikanischen Traums, der alles, was nicht in dieses Bild passt, neben sich verblassen lässt. Soziales Elend, Armut, Not betrifft nicht diejenigen, die stolz ihr Haus herzeigen können. Die, die am Rand der Gesellschaft leben, werden unsichtbar. Die hellen Bilder lassen zwar die Farben verblassen, dennoch ist die dunkle Hautfarbe der Protagonisten nicht zu übersehen.
In der Mitte des Buches wird der Bildfluss der hellen Sequenzen mit den eingewebten Villen-Fotografien unterbrochen. In zehn Bildern zeigt Graham vollfarbig dunkelhäutige Menschen aus der Nähe. Sie sind als Passanten auf der Straße meist schemenhaft fotografiert. Sonnenstrahlen lassen Gesichter oder Physiognomien aus der Düsternis der innerstädtischen Straßenschluchten hervortreten. Diese Fotografien vermitteln auf sehr direkte Art Armut und soziale Ausgrenzung. Die Menschen schauen ernst, angestrengt, skeptisch, provozierend oder abweisend. Ebenso wie die fotografierten Villen den Status ihrer Bewohner zur Schau stellen, offenbaren die hier gezeigten Menschen sehr direkt ihre soziale Lage.
Das Intermezzo beginnt und endet jeweils mit der Fotografie einer Person im Profil, deren der Kamera zugewandtes Auge durch einen Verband abgedeckt ist: Sehen und Nicht-Sehen sind hier erneut thematisiert. Und auch die Textausschnitte aus Jose Samaragos „Stadt der Blinden“, sowie aus Herman Melvilles „Moby Dick“ greifen dieses Thema auf. Aus Melvilles Buch zitiert Graham nicht die berühmte Passage über das Weiß des Wals, sondern eine Reflexion darüber, dass es zwar möglich ist, zwei nah beieinander liegende Dinge gleichzeitig zu sehen, jedoch unmöglich, sie gleichzeitig eingehend zu untersuchen. Stets wird das andere aus dem Blickfeld verdrängt.
Graham nähert sich der (Un-) Sichtbarkeit sozialer Gegensätze auf konzeptuelle Weise. Sein Ansatz stößt an die Grenzen der Dokumentarfotografie. Denn einerseits zeigt er soziale Gegebenheiten, die sich dem dokumentarischen Blick seiner Kamera darbieten. Andererseits verstößt er gegen die dokumentarische Konvention der Bildgestaltung – die Abzüge sind viel zu hell – um die Aussage seiner Fotografien zu konkretisieren. Graham versucht nicht, ein ausgewogenes, einheitliches Bild der amerikanischen Gesellschaft zu zeigen. Vielmehr vertreibt er den Anschein eines gesellschaftlichen Zusammenhalts. Seit den 1970er Jahren sind die mitunter trostlosen Kleinstadt- und Vorortsituationen amerikanischer Städte von Fotografen wie William Eggleston oder Stephen Shore fotografisch dokumentiert. Doch ihre Dokumentarfotografie gibt dem Land Einheit: Die attraktive Farbigkeit sowie das sprichwörtliche amerikanische Licht rücken das Desolate in den Hintergrund und schlagen Brücken zwischen den sozialen Realitäten. Graham zerstört hingegen durch die Überbelichtung jegliche Illusion. Er konzentriert sich in der Darstellung auf den Bruch, durch den zwei nicht miteinander vereinbare Gesellschaften entstehen.
Trotz der klaren Aussage bleibt Grahams Buch vieldeutig. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit werden auf subtile Weise miteinander verbunden. Durch die zahlreichen Verweise auf Fotografie, Film und Literatur entstehen verschiedene Ebenen, auf denen das Buch betrachtet werden kann. Es lassen sich wiederholt neue Aspekte und Lesarten entdecken, was die Beschäftigung mit American Night zu einer spannenden Begegnung mit den vielfältigen Möglichkeiten der zeitgenössischen künstlerischen Dokumentarfotografie werden lässt.
Nicht sehen können und nicht sehen wollen liegen manchmal näher beieinander als man denkt.
© Bettina Lockemann 01|2007
Paul Graham, American Night, Göttingen 2003, Steidl Verlag
128 Seiten, 60 Abbildungen
Format: 38cm x 29cm
Bildbeispiele hier: http://www.steidlville.com/books/47-American-Night.html