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Begegnungen in der Kontaktzone
Europäische Einflüsse in Japan im Fotoprojekt Contact Zone

Im Frühjahr 1886 reist der Berliner Architekt Wilhelm Böckmann mit dem Auftrag nach Japan, dort ein modernes Regierungsviertel zu planen, insbesondere ein Justizministerium, ein Gerichts- und ein Parlamentsgebäude. Den Auftrag dazu erhält das Berliner Architekturbüro Ende und Böckmann, weil Japan nach seiner Öffnung 1854 zu den westlichen Ländern aufschließen möchte, um von ihnen als ebenbürtig angesehen zu werden. Der damalige japanische Außenminister Inoue Kaoru ist der Ansicht, dass dies vor allem durch eine Aneignung westlicher Sitten, beispielsweise des Gesellschaftstanzes, oder aber durch westliche Architektur erzielt werden kann.

Böckmann schreibt im Juli 1886 in sein Tagebuch: „Ich möchte noch etwas über das Land an sich schreiben, welches mir so gut gefallen hat, aber ich habe ja selbst an mir erfahren, wie die geschickteste Feder eine falsche Vorstellung in unserer Phantasie erwecken kann. Ich will deshalb nur einige wenige Wahrnehmungen wiedergeben. Zunächst frappirte es mich, dass das Land, wo ich es vom Schiffe aus betrat, weit europäischer aussah, als ich es nur irgend gedacht. Ich hatte vor meiner Abreise aus Berlin die naive Frage an die dortige Gesandtschaft gerichtet ob dort auch viel mit Ziegelsteinen gebaut würde; dabei wies ich einen richtigen europäischen Ziegelstein vor, um Missverständnissen vorzubeugen. Die Antwort, die ich darauf erhielt, war nicht verneinend, aber doch so unbestimmt, dass ich zum Schluss kam, nur ganz ausnahmsweise wird dieses Material zur Anwendung gebracht. […]

Wie erstaunt war ich daher, als ich in Kobe, in Yokohama, in Tokio ankomme und überall ganz europäisch gebaute Städte mit schmucken, theils recht stattlichen massiven Häusern, Dampfschornsteine, die fast genauso schlank und hoch ausgeführt sind, wie man in Deutschland zu bauen pflegt, fand. […]

Besonders wunderte ich mich darüber, dass Tokio schon ganz mit modernen Gebäuden durchsetzt ist, die meist Staatsanstalten in sich bergen, aber auch Wohnungen von Prinzen und Würdenträgern enthalten. Freilich die Hauptinstitute sind zuerst gebaut und daher in Holzhäusern europäischen Aussehens untergebracht, und das ist ja mein Glück, sonst wäre ich ja nicht nach dort gerufen worden.“ [Böckmann: 1886, 125f.]

Dieses Zitat aus Wilhelm Böckmanns Tagebuch macht deutlich, dass die Erwartungen, die Japan von europäischer Seite entgegen gebracht werden, bereits im 19. Jahrhundert nicht mit den aktuellen Erfahrungen vor Ort übereinstimmen. Weil die Berichte, die ihm aus Japan bekannt sind, auf Fremdartiges, mitunter auch Exotisches verweisen, ist Böckmann überrascht über die europäische Anmutung japanischer Städte. Offensichtlich hatte er erwartet, fast ausschließlich traditionelle japanische Architektur vorzufinden.

In den mehr als 120 Jahren, die seit Böckmanns Japanaufenthalt vergangen sind, hat sich Japan massiv gewandelt. Auf die Annäherung an Europa im 19. Jahrhundert folgen imperialer und expansionistischer Militarismus im Verbund mit der Rückbesinnung auf japanische Traditionen und Werte, der Zweite Weltkrieg mit Flächenbombardements japanischer Städte, die anschließende amerikanische Besatzung sowie der wirtschaftliche Aufschwung zu einer der weltweit führenden Industrienationen. Dementsprechend haben sich die Vorstellungen, die wir EuropäerInnen heute von Japan haben – ebenso wie Japan selbst – stark verändert. Eine Konstante bleibt jedoch die Erwartung von Fremd- oder Andersartigkeit. Auch heute gilt die japanische Kultur als eine, die sehr anders ist als unsere. Nun wird dies nicht mehr nur an traditionellen Elementen sondern unter anderem auch an der gegenwärtigen Ausprägung von Japan als fortschrittlicher Turbo-High-Tech-Nation festgemacht.

Andersartigkeit der fremden Kultur
Auch diese Erwartung japanischer Andersartigkeit wird geschürt durch Berichte und Abbildungen, die Japan denjenigen näher bringen möchten, die dort noch nicht gewesen sind. Thematisiert werden meist Aspekte, die von unserer Kultur abweichen sowie solche, die auch in unseren Alltag eindringen. Beispielsweise Sushi als Form japanischer Esskultur oder Mangabücher und Animefilme. Insofern haben die meisten von uns, auch wenn sie noch nie in Japan gewesen sind, ein Japanbild im Kopf, das sich zusammensetzt aus traditionellen und postmodernen Elementen mit mehr oder weniger komplexen Zwischentönen.

Doch dieses westliche Japanbild erscheint, näher betrachtet, allzu starr wenn nicht sogar stereotyp, so dass man sich fragen muss, ob es dort denn wirklich so ist, wie zahlreiche Reiseberichte oder mitgebrachte Fotografien behaupten. Berichte in Text und Bild erheben natürlich selten den Anspruch auf Vollständigkeit, denn wer möchte sich schon anmaßen, die ganze Wahrheit über die japanische Kultur und Gesellschaft vermitteln zu können. Dennoch fällt auf, dass zahlreiche Vorstellungen von Japan so unbefragt und scheinbar unentwegt wiederholt werden, dass allein die Anzahl der Wiederholungen Zweifel an deren Absolutheit aufkommen lassen könnten. Stereotype entstehen vor allem dann, wenn beobachtbare Gegebenheiten verallgemeinert und so häufig wiederholt werden, dass sie den Diskurs bestimmen und für Abweichendes kaum Raum bleibt. Auf diese Weise wird die fremde Kultur – wie ich es nennen möchte – als „das Andere“ fixiert. Dem entspricht dann die Vorstellung einer absoluten „Andersartigkeit“ der fremden Kultur, des „kulturell Fremden“.

Die bestehenden Vorurteile oder die eigene Erfahrung von Erwartungshaltungen, die mit der Beobachtung vor Ort nicht übereinstimmen, zeigen, dass in der Betrachtung und Darstellung des Fremden das von der eigenen Kultur Abweichende, das Besondere, das Spezifische überwiegt. Oft wird vergessen, dass es auch Aspekte geben mag, die der eigenen Kultur ähnlich sind, die Vergleiche zulassen oder Parallelen aufzeigen. Dies liegt möglicherweise auch daran, dass die eigene Kultur als Vergleichsmaßstab herangezogen wird, ohne dies explizit zu thematisieren. Es geht ausschließlich um das Beobachtete: Und hier erscheint eben das Andersartige meist interessanter als das, was ohnehin von Daheim bekannt ist. Diese Art des Blicks vermeidet mitunter die bewusste Reflexion der Ursprünge der eigenen Erwartungshaltungen und daraus resultierender Voreingenommenheiten.

Einbezug der eigenen Position
An dieser Stelle kommt der Begriff der ‘Contact Zone’ ins Spiel, der auch Titel gebend für das Projekt ist. Geprägt hat den Begriff die Literaturwissenschaftlerin Mary Louise Pratt. Mit ‘Contact Zone’ beschreibt Pratt einen sozialen Raum, „in dem disparate Kulturen, oftmals in sehr asymmetrischen Beziehungen von Dominanz und Subordination – wie Kolonialismus, Sklaverei oder deren Nachwirkungen, wie sie heute überall auf dem Globus gelebt werden, aufeinander treffen, miteinander kollidieren und streiten.“ [Pratt: 1992, 4].

Die Konzeption der ‘Contact Zone’ bei Pratt unterscheidet sich ganz nachhaltig von anderen Konzepten der Begegnung mit dem Fremden, weil hier Beobachter und Beobachtete in ihren häufig asymmetrischen Beziehungen zueinander gleichzeitig thematisiert werden. Die Beobachter werden selbst zum Teil der Begegnung mit dem Fremden.

Damit besteht ein Gegensatz zu früheren, beispielsweise ethnografischen, Konzepten der teilnehmenden Beobachtung. Diese haben den eigenen Einfluss der Beobachter auf den Alltag der fremden Kultur, den die Anwesenheit der selbst wieder fremden Ethnografen ausübt, schlicht vergessen. Allerdings geht es in der frühen Ethnografie zumeist um die Beobachtung von Dorfbewohnern.

In meiner Arbeit verschieben sich die Gewichte. Mein Einfluss als Fotografin auf die Situation in einer Großstadt wie Tokio mag zwar vorhanden sein, ist aber natürlich nicht zu messen. Anders gesagt: es geht nicht darum, meine konkreten Einflüsse auf die erlebte Situation im Augenblick des Fotografierens einzuberechnen. Aber ich habe natürlich Einfluss auf den Eindruck, den die Betrachter meiner Bilder von der fremden Kultur erhalten. Und das ist auch eine Form der von Marie Louise Pratt angesprochenen Asymmetrie gegenüber dieser ‚anderen’ Kultur.

Pratts Konzept der “Contact Zone” geht in die Geschichte des kulturellen Kontakts zurück und versucht deutlich zu machen, dass die scheinbar neutralen Blicke der ethnologischen Wissenschaftler von den – häufig kolonialen – Beziehungen zwischen den Kulturen geprägt sind.

Diese besondere Situation der Geschichte kann man aber auch verallgemeinern. Die Situation zwischen Beobachtern – oder eben Fotografen – und fotografierter Kultur ist und bleibt immer asymmetrisch – auch ohne kolonialen Hintergrund. Denn die BeobachterInnen üben in der Darstellung selbst, also der Veröffentlichung der Beobachtungsergebnisse, die Kontrolle darüber aus, wie das Beobachtete präsentiert wird. Die Mitglieder der beobachteten Kultur haben darauf in der Regel keinen Einfluss.

Doch die Kultur der Beobachter beeinflusst auch die Kultur der Beobachteten. Dieses als ‚Transkulturation’ bezeichnete Phänomen der Auswahl und Aufnahme fremder Einflüsse in die eigene Kultur ist nach Mary Louise Pratt wiederum ein Phänomen der ‘Contact Zone’. Die Beeinflussung ist also wechselseitig. Die ‘Contact Zone’ ist der Raum kultureller Begegnung und gegenseitiger Beeinflussung.

Das heißt, auch meine Bilder sind Teil des sozialen Raums, den Mary Louise Pratt ‘Contact Zone’ nennt. Wenn man dies ins Auge fasst, wird deutlich, warum es mir besonders wichtig war, dasjenige in Bilder zu bringen, das unsere so genannte westliche Tradition an der japanischen Realität immer auszublenden geneigt ist. Und das sind eben die deutlichen Spuren eines ständigen kulturellen Kontakts, dasjenige, das wir ausblenden, weil es uns an unseren eigenen Alltag erinnert, was zu wenig spektakulär und vor allem: zu wenig anders wirkt.

Um den Bogen zu schlagen: Der Begriff ‘Contact Zone’ liegt meinen Fotografien nicht in seiner wissenschaftlichen Komplexität zugrunde. Vielmehr habe ich mich seiner assoziativ bedient. Für mich ist diese ‚Zone’ einerseits ein geografisches Gebiet, in dem die verschiedenen kulturellen Einflüsse miteinander in Beziehung getreten sind und auch heute noch treten. Dies ist auch das konkrete Terrain, auf dem ich mich als Fotografin bewege. Andererseits bietet der Begriff mir auch die Möglichkeit, meine Ausgangsüberlegungen und meine Haltung gegenüber dem Beobachteten zu reflektieren und mich mit den eigenen kulturellen Überlieferungen von der ‚fremden Kultur’ – vor allem aber mit den darin enthaltenen Ausblendungen, zu beschäftigen.

Das konkrete Fotoprojekt
Deshalb habe ich während eines dreimonatigen Japanaufenthaltes im Frühjahr 2006 – sozusagen als Gegenbewegung zu stereotypen Japandarstellungen – die sichtbaren europäischen Einflüsse in Japan zum thematischen Schwerpunkt meines fotografischen Projekts gewählt. Natürlich blendet die inhaltliche Konzentration auf diesen Aspekt der japanischen Kultur wiederum zahlreiche andere Aspekte aus, die sonst häufig in Japanfotografien vorkommen. Aber meine Arbeit setzt das Wissen um diese gängigen Japanbilder grundsätzlich voraus.

So weichen meine Fotografien in mehreren Punkten von den bekannten Japandarstellungen ab. Zu nennen ist beispielsweise der Verzicht auf Farbe. Die Schwarzweiß-Fotografie schafft eine Distanz zu der häufig schrillen Farbigkeit japanischer Urbanität, die sich in bunten Neonreklamen, Videowänden und Werbetafeln manifestiert und in Hochglanzmagazinen und Fernsehreportagen seine Verbreitung findet. Diese Distanz erlaubt es, sich mehr auf strukturelle Elemente zu konzentrieren.

Vergleichbar mit anderen Arbeiten konzentriert sich Contact Zone auf das urbane Japan. Dies ist inhaltlich begründet. Denn es geht mir nicht darum, strukturelle Gemeinsamkeiten in vergleichbaren Situationen aufzuzeigen, wie sie vielleicht auch vereinzelt in der Landschaft gefunden werden können. Vielmehr geht es um eine Auseinandersetzung mit historischen Gegebenheiten, deren Auswirkungen auch heute noch im Stadtbild japanischer Großstädte sichtbar sind.

In diesem Zusammenhang ist beispielsweise die Auswahl der fotografierten Orte zu sehen. Da ist Tokyo als die 1868 neu etablierte Hauptstadt, die im 19. Jahrhundert, wie wir bereits von Wilhelm Böckmann wissen, auch von westlichen Architekten zum Zentrum der japanischen Regierung ausgebaut wird. Da sind die beiden Großstädte Osaka und Kyoto, die wichtige Handels- und Wirtschaftszentren darstellen. Und da sind Yokohama, Kobe und Nagasaki, die zu den ersten im 19. Jahrhundert für westliche Schiffe geöffneten Vertragshäfen zählen, in denen sich auch Ausländer ansiedeln dürfen. Die Stadt Nagasaki im Süden Japans nimmt hier eine Sonderstellung ein. Denn auch während der ca. 250 Jahre währenden Abschließung Japans gegenüber dem Ausland vom Beginn des 17. bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein befindet sich auf einer künstlich aufgeschütteten Insel im Hafen von Nagasaki eine niederländische Handelsmission, die den Kontakt zwischen Japan und Europa auch in dieser Phase gewährleistet. Alle drei ehemaligen Vertragshäfen zeichnen sich dadurch aus, dass dort noch Relikte der einstigen Ausländerviertel sichtbar sind: in Kobe und in Nagasaki sind einige Bauten als touristische Attraktionen zugänglich, in Yokohama sind neben museal aufbereiteten Häusern heute noch zahlreiche ausländische Institutionen vertreten: so beispielsweise die Deutsche Schule und verschiedene christliche Kirchen.

Nun mögen Sie sich fragen, warum denn die Orte, wenn sie an sich für die Arbeit eine Bedeutung haben, nicht in Form von Bildunterschriften angegeben sind. Wiederholt bin ich gefragt worden, wo denn das eine oder andere Foto gemacht worden sei. Ich möchte jedoch zurückfragen, ob denn das Wissen um den konkreten Ort zu Betrachtung oder zum Verständnis der Bilder tatsächlich etwas hinzufügen kann? Sicher, wer diese Orte schon einmal bereist hat, kann dann sagen, man habe die fotografierten Ansichten schon einmal im Original gesehen oder aber anlässlich seines Besuches gerade diese Gegend nicht beachtet. Für alle anderen, die noch nie in Japan gewesen sind, hilft die Bildunterschrift vielleicht dabei, ein vermeintliches Verständnis im Sinne eines: „Aha, SO sieht es also in Nagasaki, Yokohama oder Kyoto aus,“ zu entwickeln. Doch natürlich sieht es DORT nicht generell SO aus. Die Einbeziehung von Bildunterschriften scheint einer aufmerksamen Betrachtung der Fotografien geradezu entgegen zu stehen, suggeriert sie doch, dass das Bild eine echte Information enthält, die daraus herausgelesen und verstanden werden kann. Eine Bildunterschrift eröffnet einen rationalen Kontext, innerhalb dessen das Bild einer Textinformation vergleichbar rezipiert werden kann. Man kann es auch so sagen: Die eigentliche Wirkung des Bildes wird durch die Bildunterschrift auf ihren Informationsgehalt reduziert. Das möchte ich vermeiden.

Einige der fotografierten Orte mögen sogar zusätzlich noch eine weitergehende historische oder symbolische Bedeutung haben, weil genau dort Ereignisse stattgefunden haben, die für die Beziehungen zwischen Japan und Europa einen besonderen Beitrag geleistet haben. Doch letztendlich helfen diese historischen Bezüge eher mir als Fotografin, die Orte, an denen ich fotografieren möchte, auszuwählen und aufzusuchen, als dass sie für die Betrachtung der Bilder relevant sind. Die Fotografien sollen nicht im Sinne eines Reiseführers ‚gelesen’ werden, um einen konkreten Ortsbezug zu vermitteln. Sie sollen auch im Zusammenspiel untereinander eine eigenständige Wirkung entfalten. Natürlich laden sie jede Betrachterin und jeden Betrachter auch dazu ein, für sich bestimmte Bezüge und Assoziationsketten herzustellen. Diese an das Vorwissen und jeweils eigenen Interessen gekoppelten Verknüpfungen können sich an bereits vorhandenen Japanbildern orientieren, aber auch an dem Wissen um vergleichbare Orte oder Architekturen. Doch hoffe ich, dass die Bilder in ihrer Wirkung bestehen bleiben und sich gegenüber assoziativen Einordnungsbemühungen behaupten können. Der thematische Hintergrund stellt lediglich einen äußeren Rahmen zur Verfügung, innerhalb dessen die Bilder als Bilder für sich stehen und wirken sollen.

Um in den verschiedenen Städten genau die Orte und Gegenden zu finden, die nach meinen vorausgehenden Recherchen die europäischen Einflüsse sichtbar machen würden, habe ich mich zunächst auf die Suche nach Architekturen begeben, die ein Architekturführer als von westlichen Architekten oder ihren japanischen Schülern erbaut oder von westlicher Architektur beeinflusst benennt. Dieses Vorgehen ermöglicht in den fremden Städten zunächst die Orientierung. Es geht mir jedoch nicht um eine fotografische Bestandsaufnahme von noch vorhandenen architektonischen Strukturen, die Erdbeben und Kriegszerstörung überstanden haben. Dies hätte man wesentlich erfolgreicher in einer Architekturfotografie im Großbildformat umsetzen können. In meinen Bildern möchte ich vielmehr auf eine Alltagserfahrung eingehen, die sich in vielen Stadtvierteln einstellt, wo architektonische Spuren noch auf europäische Einflüsse verweisen, sich die verschiedenen Architekturstile und -formen aber nebeneinander befinden, so wie das auch in europäischen Städten der Fall ist. Auch hier finden wir in Großstädten zahlreiche Baustile und Epochen einträchtig nebeneinander. Diese architektonisch manifesten Formen bilden den Hintergrund für das alltägliche Leben der fremden Kultur, das sich – in den Fotografien sichtbar gemacht – in öffentlichen Räumen abspielt.

Mir ist wichtig, dass auch sozusagen Japanisches in den Fotografien vorkommt. Es liegt mir fern, eine Art Suchspiel zu initiieren, in dem die BetrachterInnen zu rätseln beginnen, ob die Bilder tatsächlich in Japan oder vielleicht doch in Berlin gemacht sind. Ein Suchbild wäre wieder nur etwas, dessen Information zu begreifen, diesmal eben zu enträtseln wäre. Insofern gibt es in den meisten Fotografien Verweise auf den Ort ihrer Entstehung. Dazu gehören die in Japan grundsätzlich oberirdisch verlegten Strom- und Telefonleitungen ebenso wie JapanerInnen auf den Straßen, die Vegetation oder auch eindeutig als japanisch zu bezeichnende Architekturformen. Die Bezüge sind nicht immer sofort auszumachen, werden aber in den Bildern nicht versteckt.

Interessanterweise ist die Leitung durch den Architekturführer schon bald nicht mehr notwendig gewesen, da sich bei meinen Streifzügen durch die Städte zunehmend Bezüge von alleine herstellten. Meine Überraschung, mitten in der Tokyoter Innenstadt auf gemauerte S-Bahn-Bögen im Berliner Stil zu treffen, wo statt Schnitzelrestaurants eben Nudelsuppenküchen angesiedelt sind, können vielleicht auch die BetrachterInnen meiner Fotografien nachvollziehen.

Aber warum sind wir so überrascht? Da kann nur abermals auch auf Wilhelm Böckmanns Erfahrung verwiesen werden: Weil uns solche Aspekte nie gesagt oder gezeigt werden, weil die Berichte über Tokyo oder Japan meist nur auf das eingehen, was in Japan anders ist.

Die Bilder der Arbeit Contact Zone zeigen Alltägliches. Sie bilden Unspektakuläres eher unspektakulär ab. Denn vom europäischen Hintergrund aus gesehen, haben die gezeigten urbanen Szenerien wenig Besonderes. Irritierend werden sie vor allem in Verbindung mit Assoziationen zu den Bildern, die man bereits von Japan kennt oder dem, was man über Japan weiß. Die Irritation wirft möglicherweise Fragen auf, die nicht unmittelbar in den Fotografien beantwortet werden. Insofern laden die Fotografien dazu ein, sich die Details genauer anzuschauen. Es geht nicht unbedingt um das Abgebildete und um konkrete Verweise, die es zur abgebildeten Welt herstellen kann. Vielmehr geht es um das Bild als Bild, innerhalb dessen Begrenzung sich verschiedene innerbildliche Bezüge ergeben. Es gibt keinen zentralen Bildgegenstand, der die ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht. Gemeinsam beginnen die unterschiedlichen Aspekte innerhalb des einzelnen Bildes ihre Wirkung zu entfalten, in der Gesamtheit aller Bilder erhalten sie einen weiteren Bezugsrahmen. Deshalb ist es auch entscheidend, dass keine der Fotografien wichtiger ist als eine andere, da sie alle in derselben Größe präsentiert werden. Die Hängung ermöglicht, Querverbindungen zwischen den Bildern herzustellen und die Sequenz in ihrer Gesamtheit anzuschauen.

Die Bilder möchten nicht den Eindruck erwecken, es sähe überall in Japan so aus und es gäbe eigentlich kaum Unterschiede, weil die japanische Kultur Vieles aus Europa übernommen hat. Eine solche Behauptung kann keinen Bestand haben. Dennoch lohnt es sich herauszustreichen, dass die japanische Kultur seit Jahrtausenden Einflüsse von anderen Kulturen aufnimmt und sie in einer sehr spezifischen Weise in die eigene Kultur integriert. Die europäischen Einflüsse aus dem 19. und 20. Jahrhundert bilden insofern nur einen kleinen Teil dessen, was die japanische Kultur und Gesellschaft heute ausmacht.

Dennoch sind diese Einflüsse der Teil der japanischen Kultur, der mich in meiner Arbeit im Schwerpunkt interessiert, dem ich meine Recherchen gewidmet habe und der mich dazu bewogen hat, bestimmte Orte zu fotografieren und andere auszulassen. Meine eigene Erwartungshaltung und gewissermaßen auch meine Sichtweise, die durch die langjährige Beschäftigung mit dem Thema erzeugt worden sind, sind insofern ebenso durch die Thematik geprägt wie Wilhelm Böckmanns Erwartung, Ziegelsteine seien kein gängiges Baumaterial in Japan. Die Erwartungshaltung gegenüber der fremden Kultur ist für die Betrachtung sicher entscheidend, der Grad der Offenheit gegenüber dem, was man in der fremden Kultur tatsächlich vorfindet, wirkt sich aber zusätzlich – möglicherweise modifizierend – auf die eigene Erfahrung aus und prägt das Ergebnis der Beobachtung.

Verschiedene Herangehensweisen in der Betrachtung des kulturell Fremden
Die Betrachtung von kulturell Fremdem legt verschiedene Herangehensweisen nahe: Manche Beobachter konzentrieren sich ausschließlich auf das ganz Andere und halten an dieser Betrachtungsweise fest. Andere sind überrascht über die Abweichungen gegenüber der eigenen Erwartungshaltung, mit der sie in diese Fremde gereist sind. Schließlich besteht auch die Möglichkeit, ausschließlich Gemeinsamkeiten zu betonen und das Differente komplett auszuklammern.

Ist Wilhelm Böckmann überrascht über die Unterschiede zu dem, was er vor seiner Reise in Japan vorzufinden erwartet hat, sind die Mitglieder der preußischen Ostasienmission im Jahr 1860 der Ansicht, Japan sei das Preußen Ostasiens und insofern alles absolut mit Preußen vergleichbar. Weil sie in den japanischen Tugenden – beispielsweise der Sauberkeit, der peinlichen Ordnung sowie der Sorgfalt in der Landwirtschaft und in der Anlage von Gartenkulturen – Parallelen zu Preußen sehen, finden sie sogar die Landschaft rund um Tokyo der Berliner Landschaft ähnlich – was sie nicht ist. Sie vergleichen auch japanische Teehäuser mit Berliner Raststätten am Wegesrand. Ihre positiven Stereotype der absoluten Ähnlichkeit finden sie allenthalben bestätigt und können nicht einmal die so genannten ‚falschen’ Teehäuser, in denen Kinderprostitution blüht, moralisch verwerflich finden, so wie sie es mit vergleichbaren Institutionen zu Hause sicherlich getan hätten. [Vgl. Martin: 2002, 91.]

Diese zweite kleine Anekdote zeigt wie unterschiedlich die Wahrnehmungen des kulturell Fremden sein können. Sehen manche nur das Andere, das vom Eigenen und Bekannten Abweichende, ist auch umgekehrt die Parallelisierung von Ungleichem möglich, was Fremdheit als Erfahrung gar nicht erst zulässt. Das kulturell Fremde lässt sich aber weder im Anderen fixieren noch auf reine Vergleichbarkeiten reduzieren.

Man kann es auch so sagen: Beide Perspektiven verfehlen die Fremdheit im jeweils kulturell Fremden. Sie präsentieren so gesehen gar keine Fremde mehr, sondern nur noch mehr oder weniger Bekanntes – als typisch Gleichartiges oder typisch Andersartiges. Beiden Perspektiven geht also die Beunruhigung verloren, die ‚provokante’ Wirkung des Fremden; oder – betrachtet man die Bilder – nur die Irritation, weil es nicht ganz so ist, wie man angenommen hat. Wer sich nur auf die Anders- oder Gleichartigkeit des kulturell Fremden konzentriert, präsentiert Fremdheit in ‚gebannter’ Form. Im Grunde gibt es dann keine Überraschungen mehr und auch keinen Anreiz, über sich selbst nachzudenken. Dieser Anreiz, diese Herausforderung durch das Fremde entfällt. Dabei ist die Begegnung mit dem Fremden überhaupt erst der Anlass, sich über das Eigene bewusst zu werden oder bestehende konkrete Vorstellungen auf den Prüfstand zu stellen. Bannen wir diese Herausforderung, schmoren wir im eigenen Saft.

In meinen Fotografien versuche ich, den Aspekt der Fremdheit in einer Form zu thematisieren, die von kulturell Fremdem kein fixes Bild hinterlässt, sondern auch – aufgrund von Irritationen über Nichtvergleichbarkeit im scheinbar Gleichartigen sowie Vergleichbarkeit im angenommen Andersartigen – wieder Fragen an uns selbst aufwirft.



Literatur

Böckmann, Wilhelm (1886), Reise nach Japan. Aus Briefen und Tagebüchern zusammengestellt, Berlin 1886.

Pratt, Mary Louise (1992), Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, London 1992.

Martin, Bernd (2002), „Die preußische Ostasienexpedition und der Vertrag über Freundschaft, Handel und Schiffahrt mit Japan (24. Januar 1861)“, in: Gerhard Krebs (Hg.), Japan und Preußen, München 2002, 77-101.