code orange  2003
Rede zur Ausstellungseröffnung
in der GEDOK-Galerie
am 26. September 2003
von Ralf Christofori



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Der Sicherheitsapparat hat wieder einmal erfolgreich zugeschlagen: Die Allgegenwart von Überwachungskameras liefert uns das Bild eines jungen Mannes mit grauem Sweatshirt und Baseballkappe. Man sieht ihn irgendwo in einem Kaufhaus, unter den anderen Passanten fällt er nicht besonders auf, wahrscheinlich ist er im Begriff, sich eine neue Hose zu kaufen oder Zigaretten oder ein Geburtstagsgeschenk. Dann taucht das Bild in den Boulevardblättern auf, auf den Titelseiten aller Tageszeitungen, fast stündlich wird es von allen privaten und öffentlichen Fernsehanstalten ausgestrahlt. Das Bild wird zum Fahndungsbild. Das Opfer der Überwachung wird als Täter überführt, wenngleich es von der Tat selbst kein Bild gibt. Natürlich ist es ein Leichtes, den Täter anhand des Bildes zu identifizieren, man findet und verhaftet ihn in einer Kneipe neben dem Fußballstadion, eine DNA-Probe muss das Bild des Täters nur noch bestätigen. Am vergangenen Mittwoch nun erfahren wir, dass der Tatverdächtige aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen wurde. Die Allgegenwart der Überwachungskameras hat wohl versagt, die Evidenz des Bildes als Beweismaterial erscheint hinfällig. Dabei waren sich alle so sicher. Das Bild des Verdächtigen schien ja eindeutig zu sein. Kein Mensch aber kam auf den Gedanken, das ach so sichere Indiz des Bildes selbst zu verdächtigen.

Der Fall ist aktuell – die Ermordung der schwedischen Außenministerin Anna Lindh. Es ist ein hochpolitischer Fall, zumal die sehr schnell geäußerte These, es handle sich bei dem Täter um einen Einzelgänger aus einschlägigem Milieu, sich in Luft aufzulösen scheint. Es ist ein sicherheitspolitischer Fall, der einmal mehr die Frage aufwirft, wie viel Sicherheit ein demokratisches System leisten kann und muss – gegenüber den Rechten und Freiheiten seiner Bürgerinnen und Bürger. Ganz sicher aber wirft der Fall auch Fragen auf über die Bewertung und Verwertung von Bildern – insbesondere solcher Bilder, die vorgeben, dokumentarisch zu sein. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1978 hat der Fotograf und Theoretiker Allan Sekula solche Fragen aufgeworfen, eine längere Passage vermag – obwohl allgemein gehalten – den Umgang mit Bildern im aktuellen Fall Anna Lindh sehr treffend zu schildern: „Das aus der ‚wahrheitsgetreuen’ Betrachtung des Beweisstücks folgende Resultat ist weniger eine Funktion der ‚Objektivität’ als des politischen Manövrierens“, so schreibt Sekula. „In den Massenmedien reproduziert, könnte dieses Bild die Allwissenheit des Staates (...) bezeugen. Doch jedes veröffentlichte Polizeifoto ist sowohl ein Versuch der Identifizierung als auch eine Erinnerung an die Macht der Polizei über ‚kriminelle Elemente’. Die einzig ‚objektive’ Wahrheit, die uns Fotografien bieten, ist die Behauptung, dass irgend jemand oder irgend etwas – in diesem Falle eine automatische Kamera – irgendwo war und eine Aufnahme gemacht hat. Alles weitere, alles außer diesem Abdruck einer Spur, ist für alles zu haben.“

Warum ich so weit aushole, um auf die hier ausgestellten Fotografien zu sprechen zu kommen? – Nun, der Fall Lindh hat mit dem Fall Sekula zu tun – und beide mit dem Fall der hier ausgestellten Arbeit von Bettina Lockemann. In ihren Fotografien geht es, erstens, um den Wert des Sichtbaren: Das, was wir auf fotografischen Bildern sehen, führt uns unweigerlich zu der Überlegung, was diese Bilder bedeuten und wie wir diese Bilder deuten. Es geht, zweitens, um den Modus des Dokumentarischen, also um das, was dieser Modus – im Sinne von Bedeutung – zu leisten beansprucht. Schließlich geht es, drittens, um eine Politik des Dokumentarischen und um eine Politik des Sichtbaren im weiteren Sinne. Wie ist das zu verstehen? Und wie äußern sich diese drei Aspekte in der Arbeit von Bettina Lockemann?

Erstens: Was sehen wir? Die Arbeit „Code Orange“ von Bettina Lockemann ist entstanden im Laufe eines zweimonatigen Arbeitsaufenthaltes in Washington und New York. Es sind allesamt Schwarzweißaufnahmen. Im dokumentarischen Stil zeigen sie in einer Serie und in teilweise losen Sequenzen Bilder von urbanen Situationen, von Parks, Gebäuden und Verkehrswegen. Die Straßen sind auffällig leer. Nichts erscheint besonders auffällig, und doch wirkt diese Leere gespenstisch oder bedrohlich, zumindest aber dubios: Zwei Junge Männer sitzen mit Kopfhörern auf einer Parkbank; neben einer Straßenabsperrung hantiert ein schwarz gekleideter Mann verdächtig ruhig unter der Motorhaube seines Vans; Einsatzfahrzeuge des lokalen Police Department blockieren eine mehrspurige Straße; vereinzelte Absperrungen lassen erahnen, dass es sich um Sicherheitszonen handelt, die aufgrund einer realen oder potentiellen Bedrohung eingerichtet wurden. Als Betrachter schärft man den Blick, mehr und mehr breitet sich ein Verdacht in den Bildern von Bettina Lockemann aus. Es ist ein Verdacht, der weit über das hinaus geht, was wir auf den fotografischen Bildern sehen. Und es ist ein Verdacht, der die Lesart dieser vordergründig unscheinbaren Fotografien maßgeblich verändert. Mit ihm verändert sich die Art und Weise, wie wir diese Bilder deuten, also auch das, was diese Bilder bedeuten.

Das bringt und zu dem zweiten Punkt: Bettina Lockemanns Fotografien behaupten einen Modus des Dokumentarischen. In den kurzen Sequenzen mehrerer aufeinanderfolgender Bilder werden wir „Zeugen“ eines Geschehens. Die Bilder „dokumentieren“ eine Szene, einen Sachverhalt. Aber sie verdeutlichen, dass dieser Modus alles andere als objektive Sachverhalte oder Tatbestände schildert. „Fotografische Bedeutung“, so schreibt Allan Sekula, ist stets „relativ unbestimmt“. Oder andersherum: Bedeutung lässt sich in Bettina Lockemanns Fotografien nur relativ bestimmen – relativ zu dem, was wir sehen wollen, zu sehen glauben und zu sehen erwarten; und relativ zu dem, was wir dem Modus des Dokumentarischen an Bedeutung zuschreiben. Wie sehr gerade die Bedeutung der dokumentarischen Fotografie „relativ unbestimmt“ ist, wird im Falle der Arbeit von Bettina Lockemann besonders deutlich. „Code Orange“ erzeugt, wie die Künstlerin es beschreibt, „eine Atmosphäre von Verdacht und Überwachung“. Es ist gewissermaßen eine Atmosphäre, die auf subtile Weise den Verdacht streut, so, als würde man sich selbst in der Rolle eines Überwachers oder Fahnders wiederfinden.

So zum Beispiel, wenn im Hintergrund ein dubioses Treffen verdächtiger Personen stattfindet, während im Vordergrund ein weißer Kleintransporter ins Bild rückt, dessen Funktion unklar bleibt. Immer wieder tauchen diese weißen Kleintransporter auf, und plötzlich wirken auch sie verdächtig. Man erinnert sich an die einschlägigen Filme, in denen diese Vans als Einsatz- und Fluchtfahrzeuge von Bankräubern und sonstigen Verbrechern dienen. Umgekehrt operieren gerade auch die Institutionen der US-amerikanischen Sicherheitsorgane mit diesen weitgehend anonymisierten Kleintransportern, um – gewissermaßen in zivil – zu überwachen und zu fahnden. Der Transporter gehört zum Inventar der „Guten“ wie der „Bösen“. Was also „dokumentiert“ das Foto eines solchen Fahrzeuges? Was vermag dieses Bild überhaupt zu „bezeugen“? Schreiben wir ihm als Betrachterinnen und Betrachter nicht erst Bedeutung zu? Und welche Bedeutung gewinnt das Bild innerhalb des Zusammenhangs von Überwachen, Beobachten und Dokumentieren?

An dieser Stelle geht es, drittens, um die angesprochene Politik des Dokumentarischen und die Politik des Sichtbaren im weiteren Sinne. Bettina Lockemanns Arbeit entstand, wie gesagt, in Washington D.C. und New York, und zwar im März / April diesen Jahres. Am 18. März erklärte der US-amerikanische Präsident dem Irak den Krieg, kurze Zeit später schon begannen die ersten Luftangriffe. Der Titel von Lockemanns Arbeit, „Code Orange“, bezeichnet jene zweithöchste Sicherheitsstufe, die gewissermaßen das nationale Risiko von Terroranschlägen im Zuge des Kriegszustandes eindämmen soll. Die Politik des Sichtbaren spielt dabei eine zentrale Rolle: Sie zielt auf Überwachung, Beobachtung, Dokumentation, um so eine größtmögliche Transparenz zu erreichen. Sie bedient sich der „objektiven“ Wahrheit fotografischer Bilder und schließt nahezu lückenlos auf deren Bedeutung und Beweiskraft. Bettina Lockemanns Fotografien zeigen, dass dies ein Trugschluss ist, ein Trugschluss mit politischen Konsequenzen. Grundsätzlich ist jeder politisch verdächtig – sogar die Künstlerin selbst, wenn sie in den Sicherheitszonen des „Code Orange“ fotografiert. Grundsätzlich lässt sich zwischen den „Guten“ und den „Bösen“ anhand der Bilder allein nicht unterscheiden. Und es lässt sich noch weniger unterschieden, wo diese politisch angestrebte Transparenz noch die Sicherheit des Einzelnen gewährleisten soll und wo sie nur willkürlich dessen Rechte schikaniert.

So führt Bettina Lockemanns Arbeit „Code Orange“ über Allan Sekulas Verdacht wieder zurück zu den Ermittlungen im Mordfall Anna Lindh: Ihre Fotografien erfordern einen hohen Grad an Sensibilität – gegenüber dem, was man gerne allzu vorschnell als die Bedeutung des fotografischen Bildes bezeichnet; gegenüber dem, was man in den sogenannten dokumentarischen Bildern so gerne bezeugt sehen würde; und gegenüber jener Politik der Sichtbarkeit, deren „objektive Wahrheit“ uns selbst jeden Tag aufs Neue in den Printmedien, im Fernsehen, im Internet bis hin zum öffentlichen Raum begegnet.

Ralf Christofori