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Hans Dieter Huber

Orte des Missverständnisses.
Die Grenzen des Visuellen bei Bettina Lockemann

Die Arbeiten von Bettina Lockemann spielen mit dem absichtlichen Missverstehen der Betrachter und mit dem, was sie vermeintlich schon zu kennen wissen. Sie thematisieren die Grenzen des Sichtbaren, indem sie die Grenzen des Mediums herausfordern. Es ist eine gefährliche Gratwanderung, mit der die Künstlerin hier spielt. Denn es besteht die Gefahr, dass ihre Arbeiten falsch verstanden werden und daher eher auf Ablehnung als auf Anerkennung stoßen.

In der Arbeit Die virtuelle Stadt, die von 1996 bis 1999 entstanden ist, zeigt Lockemann kleine Thermoprints von Stadtansichten, in denen auf den ersten Blick alles sehr ähnlich aussieht. Die Fotografien sind meist von einem erhöhten Standpunkt aufgenommen. Der Blick fällt hinunter auf eine nicht näher bezeichnete Stadt. Die Oberfläche der Thermoprints ist sehr stark gegenwärtig. Sie entzieht sich einer genaueren Erkennbarkeit des Dargestellten. Was haben diese Arbeiten nun aber mit dem Mechanismus des Missverstehens zu tun? Er hängt mit den unausgesprochenen Erwartungshaltungen und Einstellungen zusammen, mit denen sich Betrachter gewöhnlicherweise diesen Fotografien nähern. Betrachter, die mit Schnappschüssen, Urlaubsfotos und Knipsen aufgewachsen sind - und das ist praktisch jeder von uns -, nimmt quasi automatisch und ohne weitere Überlegung an, dass die Autorin dieser Fotos ohne Zweifel Bettina Lockemann selbst ist. Man geht automatisch davon aus, dass sie zum Zeitpunkt der Aufnahme auch am Ort der Aufnahme war und von diesem Standort aus das Foto gemacht hat. Das ist die normale, kulturelle Logik des Schnappschusses, die hier das Urteil der Betrachter bestimmt. Die Logik des Schnappschusses gilt als ein unwiederbringlicher Beweis dafür, dass der Autor wirklich dort war, als er die Aufnahme machte. Diese Fotografien haben jedoch keinen Autor im herkömmlichen Sinne mehr. Sie sind von einer Maschine produziert.

Schnitt: Neue Szene: Et in Arcadia ego steht auf einem bemoosten Sarkophag, den Hirten zufällig in einer italienischen Landschaft finden.' Oben auf dem Sarkophag liegt ein Totenkopf und ein menschlicher Knochen. Die Hirten sind erschrocken, dass offenbar schon lange vor ihnen ein Fremder in ihrem Land war, der eine Spur seiner Existenz auf diesem Stein hinterlassen hat. Auch ich war in Arkadien - auf diesen Nenner lässt sich die kulturelle Logik des Urlaubsschnappschusses reduzieren. Er gilt als ein authentischer Beweis des Dort-Gewesen-Seins. 2

Schnitt: Rückblende: Mit dieser Einstellung gelangt man aber im Falle der Thermoprints von Bettina Lockemann zu einem falschen Bildverständnis. Die normale, alltägliche, mitgebrachte Einstellung gegenüber fotografischen Bildern ist hier nämlich die verkehrte. Denn die Künstlerin thematisiert gerade diese Voreinstellungen, Gewohnheiten, Bedingungen und institutionellen Kontexte in ihrer Arbeit. Dadurch werden quasi in einem Mechanismus der Umstülpung des Äußeren zum Inneren die Einstellungen, Dispositionen, Vorurteile oder Erwartungshaltungen der Betrachter selbst zum zentralen Thema dieser Arbeit. Nicht das einzelne, authentische Foto ist Gegenstand ihrer Arbeit, sondern die Rahmeneffekte und -Wirkungen von Fotografie. Denn Bettina Lockemann selbst war gar nicht an den Orten, die hier festgehalten wurden. Sie hat vielmehr von ihrem Schreibtisch aus per lnternet und Live Web Cams Thermoprints von Orten angefertigt, an denen sie selbst niemals war. Dies ist die entscheidende Differenz zur authentischen Autoren- oder Urlaubsfotografie. Die Thermoprints suggerieren nur eine Logik des Ortes und des Zeitpunktes, der sie jedoch völlig entbehren. Lockemann benutzt das World Wide Web als eine Art elektronisches Teleobjektiv. Es handelt sich um die Globalisierung des Kameraobjektivs mit Hilfe von Videokamera, Computern, Telefonleitungen und Thermodruckern.

In der Videoarbeit Landschaft von 1998 bewegt sich eine in Schwarzweiß wiedergegebene Landschaftsansicht langsam von links nach rechts. Für kurze Momente sieht es aus, als würde eine Filmkamera einen langsamen Schwenk über eine Landschaftsszenerie hinweg vollziehen. Plötzlich kommt es jedoch zu einem Bruch dieser Wahrnehmungsinterpretation. Dann nämlich, wenn rechts plötzlich ein senkrechter schwarzer Streifen ins Bild kommt, der immer breiter wird und langsam nach links wandert, schlägt die Interpretation in ihr Gegenteil um. Von der Auffassung eines sich nach rechts bewegenden Kameraschwenks gelangt die Wahrnehmung zur Auffassung eines flachen Schwarzweiß-Fotos, das sich nun gleichmäßig nach links bewegt. Nach jeder Aufnahme folgt ein gleich langes Schwarzbild. Wieder beginnt die Sequenz an der rechten Bildschirmseite. Ein Standfoto schiebt sich langsam nach links auf den Bildschirm. Man sieht die Oberfläche und das Statische der fotografischen Aufnahme. In dem Augenblick jedoch, in dem das Foto den Bildschirm vollständig auszufüllen beginnt, schlägt die Wahrnehmung um. Sie kippt von der Interpretation eines sich langsam nach links schiebenden Fotos zur Wahrnehmung einer räumlichen, dreidimensionalen Landschaftsszenerie, die eine Kamera in einem langsamen Rechtsschwenk zu erfassen scheint. Die Linksbewegung wird nun von einer Rechtsbewegung abgelöst. Dieser Umschlag beschreibt den Einstellungswechsel zwischen dem Bild(-Schirm) als einer geschlossenen, flachen Oberfläche und dem Bild(-Schirm) als einem Fenster zur Welt.3 In dieser Kippfigur repräsentiert sich eine Auseinandersetzung mit den beiden grundsätzlichen Möglichkeiten der Bildrepräsentation, dem Bild als Bild und dem Bild als Stellvertreter. Als es selbst ist das Bild immer präsent, es ist stets anwesend und weist durch seine langsame Bewegung auf sich selbst hin. Als Stellvertreter ist es nur ein leerer Platzhalter, eine transparente Hülse ohne Bedeutung, ein Fenster, durch das hindurch der Schwenk der Kamera als ein illusionärer Blick auf das Dargestellte erfahrbar wird.

Wiederum geht es nicht um wohlgeformte, authentische Landschaftsfotografie, sondern um die Bedingung der Möglichkeit ihrer Darstellung. Es geht um ein transzendentales Problem des Bildes. Die vertikalen, schwarzen Balken, die sich in den Bildschirm schieben, lenken die Aufmerksamkeit des Be-trachters auf die mediale Abhängigkeit des Wahrnehmungserlebnisses. Sie thematisieren diese Gebundenheit an ein Medium der Darstellung, indem sie alle 40 Sekunden den Umschlag zwischen Illu-sion und Oberfläche bewerkstelligen. Auch hier arbeitet Lockemann wieder mit dem Missverständnis, das sich einstellt, wenn man meint, allzu Bekanntes scheinbar zu kennen.

Die Arbeit geht auf die Eindrücke einer Amerikareise im Frühjahr 1998 zurück. Lockemann ist mit dem Zug von Denver nach Salt Lake City gefahren, eine 400 Meilen lange, 14 Stunden dauernde Reise. Es sind 300 Bilder aus dem fahrenden Zug entstanden. Sie hat 61 Bilder aus dieser Serie ausgesucht, die jeweils 40 Sekunden lang von Anfang bis zum Ende zu sehen sind. Die Referenz auf die Fotografiegeschichte des mittleren Westens ist hier in der Entscheidung für Schwarzweiß-Fotografie mit angelegt worden. Einflüsse stammen von der topographischen Fotografie von Robert Adams oder John Gossage, sowie ferner von den Fotoarbeiten von Peter Fischli und David Weiss. Hinter allem geht es um die Frage, was kann man heute noch zeigen, welche Bilder habe ich als Betrachter bereits im Kopf und wie kann ich mich zu dem Bekannten, das ich schon kenne, verhalten. Es geht um die Frage: Wie sieht man Bilder, wie sieht man das, was man schon zu kennen meint?

In der dritten Arbeit mit dem Titel Die internationale Stadt, an der Lockemann seit 1997 arbeitet, geht es oberflächlich gesehen, um die Thematik des Wiedererkennbaren und Bekannten, des scheinbar Gleichen im Verschiedenen. In zweiter Linie geht es aber um die Frage, was es eigentlich nützt, dass man diese Orte und Situationen scheinbar aus der eigenen Erfahrung ständig kennt, sie aber dennoch bei einer näheren Bestimmung und ldentifikation der Orte nicht weiterhelfen. Es geht hier um die Grenzen des Visuellen, die Grenzen des Sichtbaren, die Grenzen repräsentationaler Bilddarstellung.

Schnitt: Neue Szene: Der PLAN. Er ist 1995/96 in Zusammenarbeit mit Elisabeth Neudörfl entstanden und 1999 als Fotobuch veröffentlicht worden. Man sieht beim ersten Durchblättern SW-Aufnahmen von Häuserfassaden, Sträuchern, Vorgärten, Bushaltestellen, parkenden Autos, Kraftwerken, Flüssen und Baracken. Zunächst meint man, es gehe um die Anonymität, Tristesse und Austauschbarkeit der postmodernen Großstadt. Viele Fotos scheinen irgendwie heimlich gemacht worden zu sein, aus einer gewissen Deckung oder Distanz heraus, vom Nachbargrundstück, durch Hecken und Sträucher, von der gegenüberliegenden Straßenseite, vom Bürgersteig, oder von Brücken herunter fotografiert. Erst wenn man erfährt, dass es sich bei den fotografierten Situationen um Orte in Berlin handelt, die mit der Ausgrenzung und Deportation von Juden während des Nationalsozialismus zu tun haben, geraten diese oberflächlich gesehen bedeutungslosen und auswechselbaren Fotografien in einen völlig anderen Kontext. Es wird dann deutlich, dass es um die Frage geht, was kann Fotografie, oder allgemeiner gesprochen, was können sichtbare Orte für die Erinnerung und das Gedächtnis solcher schrecklicher Geschehnisse leisten. Wiederum werden also die Grenzen und die Leistungsfähigkeit des Mediums Fotografie am Fall einer sehr emotional aufgeladenen, von vielen Diskussionen um den Holocaust und die Form der richtigen Erinnerung bestimmten Debatte erprobt.

Schnitt: Rückblende: Die internationale Stadt. Was kann man sehen, wenn man etwas sieht und was kann man trotzdem nicht sehen, trotzdem man etwas sieht? Was entzieht sich der Sichtbarkeit des Visuellen? Wie ist das Verhältnis von Wissen über einen Ort zu dessen Wahrnehmung? Gilt auch hier der Spruch: man sieht nur, was man weiß? Oder kann man auch etwas sehen, was man nicht kennt? Kann man wirklich sagen, dass man etwas Unbekanntes sehen kann? Darüber schreibt Bettina Lockemann in ihrer Diplomarbeit über das Bekannte folgende bemerkenswerte Zeilen:

Wenn man versucht, eine gewisse Offenheit an den Tag zu legen, ist es möglich, die Welt nicht ständig kategorisierend wahrzunehmen. Erfahrungen können zugelassen werden, die plötzlich Neues und Unbekanntes offenbaren, auch wenn dies nicht erwartet wird. Das bedeutet für die Auseinandersetzung mit der eigenen Wahmehmung, dass mit ihrer Unzuverlässigkeit gearbeitet werden kann, wenn es von Interesse ist. Oberflächliches Hinsehen kann zur Folge haben, dass nicht ein aktuelles Bild der Welt entsteht, sondern ein Bild, das aus dem Gedächtnis heraus erzeugt wird. So wird oft aufgrund von Eckdaten, die das Wahmehmungssystem verarbeitet, vorschnell geurteilt, diese aber möglicherweise durch ältere Erfahrungen komplettiert. Dies betrifft auch die Wahrnehmung von Kunstwerken.4

Ich verstehe dies als Plädoyer für einen aufmerksamen, ruhigen, offenen und vorurteilslosen Blick, mit dem man sich ihren Arbeiten nähern sollte, um sie nicht vorschnell und gründlich misszuverstehen. Denn sie arbeiten geschickt mit der vermeintlichen Schnelligkeit unserer visuellen Sinne, dem Klischee des scheinbar schon Bekannten und den Missverständnissen, die sich durch ein lediglich abhakendes, konstatierendes Wahrnehmungsurteil ergeben. Insofern reflektieren ihre Arbeiten wichtige und sehr zentrale Fragestellungen nach den Grenzen und der Leistungsfähigkeit der zeitgenössischen Fotografie am Ende des 20.Jahrhunderts.


1 Vgl. Erwin Panofsky. Et in Arcadia ego. Poussin und die Tradition des Elegischen. in: ders., Sinn und Deutung in der bildenden Kunst. Köln 1975, S. 351-377

2 Denn der Schnappschuss sagt: Ich bin, was du bist; und was ich bin, wirst du sein. Dieser Spruch befindet sich auf der Rückwand des gemalten Altartisches des berühmten Trinitätsfreskos von Masaccio in Santa Maria Novella, Florenz von 1426-27, dem ersten zentralperspektivisch konstruierten Bild der Weltgeschichte.

3 Der Wahrnehmungsumschlag ist vergleichbar dem Unterschied zwischen dem Sehen des Mediums, dem Sehen von y in x, der Landschaft im Medium der Fotografie, und dem Sehen der Landschaft, dem Sehen von x als y, der Fotografie als Landschaft. Vgl. zu dieser Unterscheidung Richard Wollheim: Objekte der Kunst Frankfurt/M. 1982, S.195-199

4 Bettina Lockemann: Über das Bekannte. Theoretische Diplomarbeit, Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, WS 1998/99, S. 47